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Politik: Der überkommene Sozialstaat sitzt in der Falle, aber auch der Markt wird es nicht richten (Kommentar)

Gleichheit und Gerechtigkeit sind keine Synonyme. Eine Gesellschaft kann ungleich, aber gerecht, gleich, aber ungerecht sein.

Gleichheit und Gerechtigkeit sind keine Synonyme. Eine Gesellschaft kann ungleich, aber gerecht, gleich, aber ungerecht sein. Die soziale Ungleichheit wird in Deutschland in den nächsten Jahren zunehmen. Wie neoliberal sollen und müssen wir werden? Und hängt davon, was wir politisch wollen, überhaupt noch etwas ab? Oder ist der Neoliberalismus nur die Begleitmusik des ökonomisch Unvermeidlichen?

Es ist wohl wahr: Gleichheit wird nicht länger eine zündende Idee der Gesellschaftspolitik sein. Die Gründe dafür sind in ihrem Erfolg in der Vergangenheit ebenso zu suchen wie in den Grenzen jeder künftigen Gleichheits-Politik. Die Gleichheit vor dem Gesetz (Rechtsstaat) und bei Wahlen (Demokratie) sind in der zivilisierten Welt schon lange nicht mehr umstritten, und die sozialen Rechte, die die Industriegesellschaft um die Erwerbsarbeit herum organisiert hatte, geraten nun in schwere Wasser.

Der Sozialstaat, wie wir ihn kennen, ist den Stürmen der Globalisierung und der technologischen Revolution ausgesetzt. Die Mobilen, die Flexiblen, überhaupt die Wissensreichen, werden die Chancen der neuen Zeit nutzen, andere werden zurückfallen. Ungleichheiten nehmen zu. Mit der traditionellen Arbeitsgesellschaft laufen auch deren Sicherheitsversprechen mehr und mehr ins Leere. Und schließlich läßt sich nicht länger darum herum reden: Der real existierende Sozialstaat hat viel Gutes bewirkt, aber auch Fallen aufgestellt, die viel zu viele in Armut, Abhängigkeit und Ausgrenzung halten.

Doch das "Ende der Gleichheit" erzählt nur die halbe Geschichte. Die sozialen Fragen sind ja nicht verschwunden, sie stellen sich künftig nur anders und in schärferer Form

Wieviel und welche Ungleichheit will eine Gesellschaft ertragen, ohne ihre eigenen Standards zu verletzen? Wieviel kann sie ertragen ohne böse soziale (und später auch wirtschaftliche) Folgen?

Wie könnten neue Formen der sozialen Sicherheit aussehen, die den künftigen Arbeits- und Lebensweisen eher entsprechen?

Wie könnte eine Politik aussehen, welche die Menschen, die Hilfe brauchen, nicht zusätzlich marginalisiert? Eine Politik, die dazu beiträgt, dass sich alle "ohne soziale Scham in der Öffentlichkeit zeigen" können, wie der schottische Moralphilosoph Adam Smith einmal das Ziel sozialer Wohlfahrt umschrieben hat?

Darauf haben die nachindustriellen Gesellschaften noch keine befriedigenden Antworten gefunden. Aber das ist noch kein Grund, die Fragen zu leugnen oder die alten Lieder weiter zu singen. Die soziale Melodie einer Gesellschaft wird neu komponiert und neu instrumentiert werden müssen. Ein Beispiel nur: Wenn die Deutschen bisher von "Chancengleichheit" geredet haben, dann haben sie die Gleichheit ganz groß und die Chancen eher klein geschrieben, denn Gleichheit verspricht Sicherheit und Chancen bedeuten auch Risiken. Die politische Semantik der Chancengleichheit wird sich ändern und die Politik ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, aber auch verstärken müssen, dass Menschen immer wieder eine Chance bekommen und neu anfangen können. Das hat weitreichende Folgen, von der Sozial- bis zur Bildungspolitik.

Eine solche Perspektive setzt das Thema für die Zeit nach dem "Ende der Gleichheit": Ungleichheiten sind dann leichter zu ertragen, für den einzelnen wie für die gesamte Gesellschaft, wenn die soziale Mobilität nach unten nicht ins Bodenlose führt und die soziale Mobilität nach oben für alle mehr als ein leeres Versprechen ist. Nicht die Gleichheit (oder deren Ende) ist das eigentliche Problem der Zukunft, sondern die Ausgrenzung von Menschen, die soziale Spaltung und die dauerhafte Unterschichtung der Gesellschaft.

Positiv gewendet mag man mit der neueren katholischen Soziallehre von "Beteiligungsgerechtigkeit" als Leitbild einer guten Gesellschaft sprechen: Jeder soll teilhaben, niemand darf ausgegrenzt werden. Das alles erfordert nicht weniger, wohl aber andere politische Anstrengungen als bisher. Die offene Frage lautet: Sind Staat und Gesellschaft dazu in der Lage? Oder bedeutet das Ende der Gleichheit auch das Ende aller Solidarität?

Dies ist die eigentliche ideenpolitische Konfliktlinie, die gegenwärtig mitten durch die Gesellschaft und die politischen Parteien verläuft. Gibt es ein soziales Band zwischen Menschen, das nicht alleine gewebt ist durch Zwang (Staat), Tausch (Markt) oder Liebe (Familie)? Etwas Gemeinsames, das die Menschen verbindet jenseits ökonomischer und privater Beziehungen? Werte, die nicht an der Börse gehandelt werden? Oder warum sonst sollten Menschen soziale Rücksicht nehmen, ihre eigenen Interessen transzendieren?

Die einen sagen: Die Wirtschaft ist unser Schicksal und die Restgesellschaft muss sich anpassen. Die richtige Ordnung der Wirtschaft führt automatisch zu einer guten Gesellschaft (eine Fixierung auf das Ökonomische, die ja der alte Sozialismus und der neue Liberalismus gemeinsam haben.)

Die anderen fragen, bei aller Liebe für Vielfalt und Wettbewerb, Individualisierung und Wohlstand, wie eine wirtschaftlich erfolgreiche und eine sozial attraktive Gesellschaft auch in Zukunft möglich sein könnte. Eine solche Gesellschaft wäre ein "kollektives Gut", das man auch nicht für viel Geld privat kaufen kann. Wenn die alten eindimensionalen Hoffnungen auf Gleichheit, Staat oder Markt erst einmal entzaubert sind, dann werden, dies ist die Chance des Wandels, auch wieder der Blick und die Politik frei für eine neue Balance zwischen Staat, Markt und Bürgergesellschaft.Aus der Serie "Das Ende der Gleichheit - Wie neoliberal wollen wir werden" (1)

Der Autor lebt als freier Publizist in München.

Warnfried Dettling

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