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Politik: Der Veränderung zum Trotz

GEWERKSCHAFTEN HEUTE

Von Hermann Rudolph

Zu den Flüsterparolen, die das Klagen über den Zustand der deutschen Gesellschaft begleiten, gehört das Verdikt: Die Gewerkschaften sind schuld. Rationalere Façon des verbreiteten Stöhnens: Ohne die Eindämmung ihres Einflusses sei keine Besserung zu erwarten – kein Wachstum der Beschäftigung, kein Abbau der Verschuldung, kein Aufschwung. Beispiele für diese Wirkung der Gewerkschaften gibt es en gros, so viele und so drastische, dass darüber fast untergeht, wie viel von dieser GewerkschaftsSchelte leere Erbitterungs-Rhetorik ist. Die deutsche Lähmung hat viele Gründe, auch solche, die nicht mit der Fessel des Flächentarifvertrags und der Last der Bürokratie zu tun haben. Nur: Sicher ist auch, dass die Kritik an der Rolle der Gewerkschaften in dieser Gesellschaft einen der neuralgischen Punkte unserer Nach-Wahl-Depression trifft.

Gerade deshalb darf man nicht davor zurückschrecken, Binsenweisheiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Es ist unbestreitbar, dass die deutschen Unternehmen lange genug gut gefahren sind mit ihren Gewerkschaften. Sie hatten in ihnen ein stabilisierendes, partnerschaftliches Gegengewicht, ohne das ihr Aufstieg nicht möglich gewesen wäre. Und auch der öffentliche Dienst, mittlerweile der Fußabstreicher für jedes Ressentiment, ist wahrhaftig besser als sein Ruf, der allerdings auch fatal schlecht ist – zum nicht geringen Teil übrigens unverdient. Doch haben wir offenbar jenen Punkt überschritten, den die gängige Lebensweisheit mit der Floskel markiert, dass aus Wohltat Plage wird. Tatsächlich muss man ja nicht zu den Propheten der reinen Marktwirtschaftslehre gehören, um mit Betroffenheit darauf zu reagieren, dass an jeder versuchten Bewegung bleischwer die Gewichte der großen Apparate von Besitzstandswahrung und Umverteilung hängen.

In Wahrheit wird den großen Aggregaten des Sozialstaats ein tief greifender Wandel abverlangt – nicht nur den Gewerkschaften, auch dem Staat, auch den Unternehmen. Verändert hat sich das Verhältnis der Kräfte des Wandels und der Beharrung, die diese Gesellschaft tragen. Der Anteil der Elemente, die auf Absicherung, Ausgleich und Stabilisierung gerichtet sind, muss in einer Wirtschaft, deren Erfolg von ihrer Beweglichkeit, von Individualisierung und Flexibilisierung, abhängt, kleiner sein als in den alten Aufbau-Zeiten. Und ein öffentlicher Dienst, der sich als Dienstleister verstehen muss, wenn er seine Berechtigung behalten will, kommt nicht darum herum, umzudenken, abzuspecken, beweglicher zu werden.

Es bleibt in dieser Lage ein wirkliches Ärgernis, dass die Gewerkschaften auf diese Veränderung zunehmend mit Trotz reagieren – und sich damit dem Bild annähern, das die Gewerkschafts-Fresser von ihnen zeichnen. Berlin bietet mit dem Scheitern des Solidarpakts ein Beispiel dafür. Wer auf ein Angebot, wie es der Senat vorgelegt hat, mit schlichter Ablehnung reagiert, der zeigt, dass er gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt, was sich an Um- und Einbrüchen in dieser Gesellschaft vollzieht. Aber wo Gefahr ist, wächst manchmal wirklich etwas Rettendes. Dass der Regierende Bürgermeister eine Öffnungsklausel ins Beamtenrecht einbringen will – erst am Freitag auf der Konferenz der Ministerpräsidenten, dann im Bundesrat –, ist nicht nur eine Konsequenz einer verfahrenen Situation. Es mag sein, dass es für Berlin nur zur undankbaren Rolle des Minenhundes reicht, weil die anderen Bundesländer am Ende nicht mitziehen. Es könnte aber auch ein Schritt nach vorn sein – für alle. Denn er führt wenigstens ein Stück weit aus der starren Einrüstung des Beamtenrechts hinaus. Ein Wagnis, das sich lohnt.

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