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Politik: "Deutsche Erinnerungsorte": Deutschland doppeldeutig

Dass die Deutschen sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen sollten, riet einst Richard von Weizsäcker seinen Landsleuten. Damit die Vergangenheit nicht mehr nur als Last, sondern auch als Auswahl begriffen werden möge, auf die man aktiv zurückgreifen kann.

Dass die Deutschen sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen sollten, riet einst Richard von Weizsäcker seinen Landsleuten. Damit die Vergangenheit nicht mehr nur als Last, sondern auch als Auswahl begriffen werden möge, auf die man aktiv zurückgreifen kann. Etienne François und Hagen Schulze sehen drei schwer wiegende erinnerungsgeschichtliche Konsequenzen für den gehemmten Erzählfluss der Deutschen - den Nationalsozialismus, die Wiedervereinigung sowie die paradoxe Konstellation, den Nationalstaat erst im Zeitalter der europäischen Erneuerung restituiert zu haben.

In drei Bänden haben die beiden Historiker 120 Essays über lieux de mémoire gesammelt, die mehr darstellen als bloße Ereignisstätten gewesener Schlachten und Konferenzen. Der Erinnerungsort wird nicht als eine abgeschlossene Realität, sondern als "Ort in einem Raum" gesehen, "sei er real, sozial, politisch, kulturell oder imaginär".

So steht jedes Wahrzeichen auch für Unwahres. Die "Frankfurter Paulskirche" erscheint Wolfgang Mommsen als eine "Chiffre für verpasste Möglichkeiten auf dem Weg in die Moderne". Der Versuch, im März 1849 eine neue Reichsverfassung durchzusetzen, scheiterte an der Zurückweisung der Kaiserwürde durch den preußischen Monarchen. Mehr symbolischen Bonus heimste dagegen das "Brandenburger Tor" ein. Gustav Seibt schildert, wie Schadows von Napoleon nach Paris verschiffte Quadriga im Rahmen einer "patriotischen Triumphprozession" durch Norddeutschland und die preußischen Gebiete heimgeholt wurde. Keine politische Strömung, die das Tor nicht symbolisch für sich in Anspruch genommen hätte - ob bei Sedansfeiern, Eberts Empfang für die "im Felde unbesiegten" Kriegsheimkehrer, bei Hitlers Machtergreifung, dem Einholen der roten Fahne am 17. Juni 1953, beschwörenden "Macht-das-Tor-auf"-Parolen im Kalten Krieg, NPD-Aufmärschen und friedfertigen Lichterketten für Terroropfer.

Erinnerungsorte sind Kampfstätten um die Deutungshoheit über die Vergangenheit. Beispiel "Rosa Luxemburg". Noch 1962 stellte sich das Bundespresse- und Informationsamt vor einen lebenden Attentäter, dem die standrechtlich versuchte "Rettung Deutschlands vor dem Kommunismus" zugute gehalten wurde. Selbst der sozialdemokratische Postminister Horst Ehmke schaffte es nicht, eine Briefmarke mit dem Porträt des "linksextremistischen Flintenweibs" in Umlauf zu bringen. Heute würde das gleiche Ansinnen, schreibt Gilbert Badia, "zweifellos nicht mehr dieselben Proteste ernten wie vor einem Vierteljahrhundert".

Wie ein anderer zwiespältiger Erinnerungsort zum gesamtdeutschen Gemeinplatz geriet, unterstreicht die erhellende Betrachtung des "20. Juli" von Jürgen Danyel. Im Kalten Krieg beförderte Theodor Heuss jenen "Aufstand des Gewissens" zum anti-totalitären "Gründungsmythos der Bundesrepublik". Doch mit der "Demokratisierung der Erinnerung" wurden auch die Mauern der Erinnerungsorte durchlässiger. Je kritischer der 20. Juli 1944 von westdeutschen Historikern betrachtet wurde, desto mehr schien die nationalgeschichtliche Offensive der späten DDR Begehrlichkeiten gegenüber diesem einst so verpönten Datum zu entwickeln: "Oberst Stauffenberg gehört uns."

Das Kapitel über die Moderne liefert mehrere Beispiele für eine brüchig bis tragisch verlaufene Ankunft. Anja Baumhoff schreibt, dass Walter Gropius vom "Bauhaus" die Vorstellung einer "Loge" hatte, die der Moderne zum Durchbruch verhelfen sollte. Doch das selbstentworfene Bild, wonach das Wirken des Instituts 1933 geendet habe, widerspricht der Tatsache, dass Bauhaus und Bauhäusler gegen die braune Diktatur nicht immer immun waren. Mies van der Rohe entwarf 1935 den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel. Ein anderer Bauhäusler - Fritz Ertel - hat sogar das KZ Auschwitz mit gebaut.

Eine "Doppelnatur" sagte man auch "Walther Rathenau" nach. In der Kurve der Koenigsallee in Berlin-Grunewald wurde der Reichsaußenminister im Juni 1922 von zwei Attentätern ermordet. Martin Sabrow schildert, wie danach eine wahre "Jagd auf alle Zeichen monarchistischer Gesinnung" gemacht wurde. Doch die Mutter des ermordeten "Vernunftrepublikaners" protestierte mit Erfolg gegen die geforderte Entfernung oder wenigstens Verhüllung des Kaiser-Standbildes während der Trauerfeier, auf der das Wort "Republik" kaum gefallen sein soll. Dennoch wurde die Umbenennung der schicksalhaften Koenigsallee betrieben, weil man fälschlicherweise hinter dem Namen nicht den Bankier Koenigs sondern einen Hohenzollern vermutete.

Der Band verweist auch in mehreren Texten auf die gescheiterten Versuche von DDR-Historikern, ein "sozialistisches Geschichtsbewusstsein" zu entwickeln. So galt "Luther" nach SED-Lesart an seinem 500. Geburtstag 1983 als "einer der bedeutendsten Humanisten, deren Streben einer gerechteren Welt galt". Für Auguren waren solche gnädig gestimmten Urteile schon erste Anzeichen eines gestrandeten Systems.

An dessen Ende stand als Erinnerungsort der mobilisierende Ruf der friedlichen ostdeutschen Revolution "Wir sind das Volk!" "Was verleiht Worten Flügel? Was erhebt sie zu einem Erinnerungsbestandteil, der Zeiten überdauert?", fragt der Autor Hartmut Zwahr. Zweierlei müssten zusammentreffen - das grundstürzende Ereignis und der Akteur.

"Achtundsechzig" war dagegen ein "mitreißender sozialer Prozess", den Heinz Bude auch als "Spiel mit tausend Abirrungen" beschreibt. Habermas wollte die Bewegung auf Emanzipation, und Bohrer wollte sie auf Surrealismus verpflichten: "Wo für den einen Intensität als Regression erschien, stellte sich für den anderen Rationalität als Degeneration dar."

Auch wenn im geteilten Deutschland Geschichte höchst unterschiedlich in Anspruch genommen wurde, dürften auch jenseits der DDR auf dem Feld der kollektiven Erinnerung neue Schlachten geschlagen werden. Wer dagegen in dem spannend zu lesenden Sammelband gesamtdeutschen Trost sucht, der findet ihn im Essay Ute Freverts über die "Pflicht" als Ort des mentalen Wandels. Sie widerspricht dem konservativen Vorurteil, dass "individualistische Selbstentfaltungswerte" das klassische Pflichtbewusstsein abgelöst hätten. Die aktuellen Debatten um eine neue "Bürger"- oder "Zivilgesellschaft" rekurrierten immerhin auf ein Pflichtenverständnis, das nicht mehr nur auf den Staat, sondern auch auf die Mitbürger bezogen sei.

Norbert Seitz

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