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Politik: „Deutschland fehlt inneres Wachstum“

Vor dem SPD-Parteitag: Londons Botschafter über Labours Reformen, Lehren für Berlin – und die Lage im Irak

Herr Botschafter, die rotgrüne Regierung hier leitet Reformen ein, mit denen Großbritannien schon Erfahrungen hat. Etwa auf dem Arbeitsmarkt. Ist das Ziel Vollbeschäftigung noch realistisch?

Wir haben es geschafft, die Arbeitslosigkeit auf etwa vier bis fünf Prozent zu senken, was wir als Vollbeschäftigung ansehen. Also war es realistisch. Generell gilt: Die deutsche Wirtschaft ist für Europa so wichtig, dass wir uns alle wünschen, dass der begonnene Reformprozess erfolgreich zum Abschluss gebracht wird. Ganz Europa wird sonst leiden.

Wo hat Deutschland Nachholbedarf?

Es ist doch auffällig, dass die Menschen in Deutschland Geld haben, es aber nicht ausgeben wollen und stattdessen sparen. Das Problem in Deutschland ist nicht die Produktivität. Das Problem ist der Mangel an innerem Wachstum.

Wie hat die britische sozialdemokratische Regierung dieses Problem gelöst?

Unser Wachstum in einer weltwirtschaftlich schwierigen Lage kommt durch Binnennachfrage zu Stande. Wir investieren in den Jahren 2001 bis 2006 rund 500 Milliarden britische Pfund (330 Milliarden Euro) in die Bereiche Bildung, Verkehr und Gesundheitswesen, die lange vernachlässigt worden waren. Wegen der historisch niedrigen Zinssätze haben die Menschen genug Vertrauen in die Zukunft, um weiter zu kaufen und zu investieren. Das ist ein erheblicher Konjunkturimpuls und erklärt, warum unsere Wachstumsrate doppelt so hoch wie der europäische Durchschnitt ist.

Ist die Labour Party auf dem Weg zu einer modernen Sozialdemokratie schon weiter fortgeschritten als die SPD?

Wir haben mit dem Reformieren 20 Jahre früher angefangen. Wir mussten das auch tun, weil die schwierige Lage uns gar keine Wahl ließ. Die Herausforderung für beide Länder heißt, Liberalisierung und Wettbewerb in Einklang zu bringen mit sozialer Gerechtigkeit. Man könnte argumentieren, dass wir unter den Konservativen zu weit in Richtung Wettbewerb gegangen sind und zu wenig auf soziale Gerechtigkeit geachtet haben. Das haben wir in den letzten Jahren zu korrigieren versucht.

Was sind die großen Umbau-Vorhaben in Großbritannien?

Die wichtigsten Elemente unserer Reformen waren die Privatisierung der Staatsgesellschaften und die Beschneidung des Gewerkschaftseinflusses durch gesetzliche Regelungen für Streiks. Wir haben auch mehr Wettbewerb in den öffentlichen Sektor gebracht. Die erfolgreichsten Reformen sind die im Bildungssystem. Wir haben für die Schulen Wettbewerb, Transparenz und nationale Bildungsstandards eingeführt. Deshalb schneiden wir in der Pisa-Studie auch recht gut ab.

Lord Palmerston sagte, Staaten haben keine Freunde, Staaten haben nur Interessen. Sind Schröder und Blair wirklich Freunde?

Wir haben mit Berlin die engsten politischen Beziehungen, die wir in Europa überhaupt haben. Die Beziehungen zwischen Blair und Schröder sind sehr gut, diese Freundschaft kann sehr hilfreich sein. Manchmal gehen unsere Interessen auseinander, wie in der Irak-Politik. Aber weil es diese guten persönlichen Beziehungen gibt, haben wir Verständnis für die Deutschen gehabt, und sie haben hoffentlich verstanden, warum wir anders handelten. Es ist zwischen unseren Regierungen dann auch nicht zu solchen Spannungen wie zwischen Deutschland und anderen Ländern gekommen.

Würde es Großbritannien befürworten, wenn Deutschland zur Stabilisierung der Lage im Irak auch Soldaten schickte?

Das halte ich für vollkommen unrealistisch. Wir begrüßen die Tatsache, dass deutsche Soldaten in Afghanistan und auf dem Balkan disloziert sind. Niemand in Großbritannien kommt auf die Idee, dass deutsche Soldaten in den Irak sollten. Das erwarten wir nicht. Wir hoffen, dass Deutschland sich finanziell noch stärker am Wiederaufbau des Irak beteiligen wird. Wir sehen die 200 Millionen Euro, die Deutschland zugesagt hat, als ersten Schritt an. Wir freuen uns auch, dass die Deutschen zugesagt haben, bei der Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte mitzuhelfen.

Wie will die Kriegskoalition die katastrophale Lage im Irak unter Kontrolle bringen?

Die Medien vermitteln ein Bild vom Irak, das mit der Realität des Landes nicht übereinstimmt. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir mit der Sicherheitslage besonders im sunnitischen Dreieck Probleme haben. Aber 85 Prozent des Landes leben im Frieden. Schulen und Universitäten lehren, Strom und Wasser funktionieren besser als vor dem Krieg, die Märkte sind voll, die Wirtschaft kommt auf Touren, täglich werden mehr als zwei Millionen Barrel Öl gefördert. Es ist einfacher, über Anschläge und Hubschrauber-Abschüsse zu berichten als über den erfolgreichen Aufbau. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Ich bestreite energisch, dass man von einer Katastrophe oder einem Chaos reden kann.

Das Gespräch führten Stephan-Andreas Casdorff und Hans Monath.

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