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© dpa

Trauer um Bundeswehrsoldaten: Abschied von den Gefallenen

Die Ortsschilder sind schwarz umflort, in den Schaufenstern hängen Fotos. Die Menschen in Selsingen trauern um die in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten. Und alle haben die gleiche Frage: Hatte dieser Tod einen Sinn?

Von Michael Schmidt

Die Hauptstraße von Selsingen ist gesperrt, an ein normales Geschäftsleben im Blumenlädchen, bei Bäcker Böckmann und im Modegeschäft Koch nicht zu denken. Hunderte Menschen säumen die Straßen, stehen auf Balkonen, lehnen in Fensterrahmen. Soldaten stehen Spalier, in grauem Dienstanzug und bordeauxrotem Barett, viele Bürger tragen Schwarz.

Es ist der Tag, an dem die drei Soldaten beerdigt werden, die hier stationiert waren, hier lebten, die von hier aus nach Afghanistan gingen, wo sie am Karfreitag getötet wurden.

Und nicht nur die Bürger gehen zur Trauerfeier, auch der Ministerpräsident des Landes Niedersachsen ist gekommen, der Verteidigungsminister des Bundes – und die Kanzlerin selbst. Es sei ihr ein persönliches Anliegen, hatte Angela Merkel, die Kurzentschlossene, am Vortag mitteilen lassen. Sie wolle beim Trauergottesdienst in der St.-Lamberti-Kirche dabei sein, um Abschied zu nehmen von den Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan ums Leben gekommen sind, an jenem Tag, da in derselben Kirche aus Psalm 39, 13 gepredigt wurde: „Höre mein Gebet, Herr, und vernimm mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen.“

Die drei Soldaten des Fallschirmjägerbataillons 373 aus Seedorf bei Selsingen waren erst seit fünf Wochen im Einsatz, als sie starben. Der 35-jährige Hauptfeldwebel Nils B., der 25-jährige Stabsgefreite Robert H. und der 28-jährige Hauptgefreite Martin A. gehörten zur Luftlandebrigade 31, die seit Mitte März Teile des 22. Deutschen Einsatzkontingents Isaf stellt.

An ihrem Todestag waren sie mit ihrer Einheit, etwa 60 Fallschirmjägern, aus dem Feldlager in Kundus aufgebrochen, um Sprengfallen zu beseitigen und Verkehrswege wiederherzustellen. Dabei gerieten sie kurz nach ein Uhr mittags in einen Hinterhalt, wurden von Talibankämpfern mit Gewehren, Raketenwerfern und Panzerfäusten beschossen. Aus Häusern heraus, in denen sich auch unbeteiligte Zivilisten befanden. Deshalb konnten ihnen die angeforderten Kampfjets nicht aus der Luft helfen. Es gab Verwundete, dann kamen ihnen US-Hubschrauber zu Hilfe, die Lage war unübersichtlich, Gerüchte kamen auf, hatten sie zu wenig Munition dabei, um sich zu verteidigen?

Im völligen Gegensatz dazu war am Tag der Beerdigung in Niedersachsen nichts unvorhergesehen, nichts ungeplant, nichts ungeprobt. Stundenlang hatten die Soldaten die Teile der Zeremonie am Vortag wiederholt: die Totenwache in der Kirche, das militärische Geleit der mit schwarz-rot-goldenen Fahnen bedeckten Särge, die Begleitmusik. Die Trauerfeier und ihre Vorbereitung sind zu einem Staatsakt geworden. Tausend Gäste, doppelt so viele wie erwartet, erweisen dann am Freitag den Toten die letzte Ehre, drücken den Familien und den Hinterbliebenen ihr Mitgefühl aus. Drinnen, in der Kirche, und noch mehr davor, wo eine Großleinwand auf einem Parkplatz Bilder überträgt.

Seit Tagen befindet sich das Dorf im Belagerungszustand. Im „Lied der Niedersachsen“ heißt es, die Menschen hier seien „sturmfest und erdverwachsen“. Doch wenn sie die Wahl haben, ziehen sie die Ruhe dem Spektakel allemal vor. An diesem Freitag haben sie keine Wahl. Mit einer Mischung aus Stolz, Neugier und Unverständnis stehen sie in den Hauseingängen beim Plausch und registrieren kopfschüttelnd, wie die Fernseh- und Radioübertragungswagen freie Plätze in Beschlag nehmen. „Ist auch schön, wenn’s vorbei ist“, sagt die Wirtin im Selsinger Hof. Und eine der Umstehenden vor der Großleinwand findet „gut, dass die Merkel da ist – aber für die Familien ist das auch ’ne Tortur“.

Dieser pragmatisch-nüchterne Wesenszug ist nicht als Herzlosigkeit misszuverstehen. Im Gegenteil. Anteilnahme und Mitgefühl sind groß. Die Fahnen wehen auf Halbmast. Die Ortsschilder sind schwarz umflort, Taxifahrer haben Trauerbändchen an die Außenspiegel geheftet. Und in den Schaufenstern der vielen kleinen Geschäfte hängt neben Kerzen ein Foto, das die drei Toten zeigt.

Nils B. lebte sogar im Ort, nicht nur in der Kaserne, war zugezogen zu den 3400 Einwohnern, hatte seine Frau hier und zwei kleine Kinder. „Das ist schon schlimm“, sagt die Verkäuferin in einem Laden vis-à-vis der Kirche. Die Soldaten, sagt sie, gehörten doch zum Stadtbild. „Man sieht die ja immer beim Joggen in ihren blauen Trainingsanzügen, oder in den Supermärkten, Cafés und Restaurants.“ Ihr eigener Sohn hat seinen Grundwehrdienst bei den Fallschirmjägern geleistet.

Die Kaserne in Seedorf, drei Kilometer außerhalb von Selsingen, passt sich mit ihren niedrigen roten Backsteingebäuden unauffällig in die Landschaft ein. Sie ist der größte Arbeitgeber der Region, weit vor der Hansa Maschinenbau, einem laut Eigenwerbung führenden europäischen Hersteller von Friedhofsbaggern. Mehr als vier Jahrzehnte lang waren hier niederländische Panzergrenadiere stationiert. Seit 2006 sind es die rund 3400 deutschen Soldaten, überwiegend Luftlandetruppen.

Wobei das Fallschirmjägerbataillon 373 mit dem Adler im Abzeichen 1996 ganz woanders, nämlich im brandenburgischen Doberlug-Kirchhain aufgestellt wurde und erstmals ein Jahr später bei der Oderflut Berühmtheit erlangte. Man schaufelte Sandsäcke voll, stützte Deiche ab, schützte das Oderbruch. Die rot-grüne Schröder-Regierung schickte die Fallschirmjäger als erstes Krisenreaktionsteam in den Kosovo. Und sie sicherten Schröders Wiederwahl 2002 mit dem „Wunder von Mühlberg“. Als das Elbhochwasser die Altstadt von Mühlberg zu überfluten drohte, waren die 373er mit Sandsäcken und Schaufeln in ihrem Heimatlandkreis wieder im Einsatz.

Erst im Februar sind 1100 Soldaten der Luftlandeeinheit, darunter die jetzt ums Leben Gekommenen, verabschiedet worden, um nach Kundus und Masar-i-Scharif versetzt zu werden. „Wir gehören zu den spezialisierten Kräften des Heeres“, sagt Hauptmann Björn Gornik. Da klingt auch Stolz mit. Tatsächlich gelten Fallschirmjäger seit jeher als Eliteeinheit: hart trainierte Jungs, mit dem Mut, sich mitten im Einsatzgebiet absetzen zu lassen und dann zu Fuß, mit der gesamten Ausrüstung „am Mann“ in den Kampf zu gehen. „Unser Grundauftrag sind Operationen gegen irreguläre Kräfte, das ist schon unsere Kernkompetenz“, sagt Gornik. In Afghanistan aber, wo die Seedorfer von Anfang an dabei sind, seien sie nicht, um die radikalislamistischen Taliban zu jagen, „sondern wir erfüllen den normalen Routineauftrag wie jede andere Einheit auch“. Nämlich: Das Provinz-Wiederaufbau-Team Kundus unterstützen. Mit Infanteristen, „die rausgehen und den Aufbauhelfern unter die Arme greifen, Aufklärungsarbeit leisten, Gespräche mit Dorfältesten führen“, und mit einer Schutzkompanie, „die in erster Linie dafür da ist, Anschläge zu verhindern – was in den letzten Jahren immer schwieriger geworden ist“. Weshalb die Zahl der Opfer steigt.

Krieg, Tod, Zerstörung – nichts könnte von der ländlichen Idylle in Selsingen weiter entfernt sein. Die Vorgärten sind gepflegt, die Blumenbeete geharkt, Osterglocken, Ginster, Krokusse blühen. Und über der ganzen Gegend liegt eine eigentümliche Geruchsmelange aus Viehwirtschaft, Frühlingserwachen und der Behaglichkeit von Kaminfeuern. Man ahnt, wie es die Selsinger 1985 zu Bronze im Bundeswettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ gebracht haben: mit Sinn fürs Hübsche und Liebe zum schmückenden Detail.

Kann man sich in einer solchen Umgebung auf den Krieg vorbereiten?

Die Frage drängt sich auf in diesem dörflichen Paradies, einem früher bedeutenden Adelssitz, wo alles den Anschein von heiler Welt erweckt. Kein Staub, keine Hitze, nicht die extremen Temperaturschwankungen des afghanischen Hochlands. Trotzdem geht die Frage am Kern des Problems vorbei, das lautet: Werden die Soldaten richtig ausgebildet? Stimmen die Methoden und Expertisen der Ausbilder, das Gerät? Genau daran entzündet sich dieser Tage Kritik. Der scheidende Wehrbeauftragte des Bundestags, Reinhold Robbe, hat nach einem Besuch bei den Fallschirmjägern in Seedorf Mängel moniert und nach dem Tod der Kameraden erklärt, sie hätten in der Ausbildung nicht genügend Fahrzeuge der Typen Dingo und Fennek gehabt.

„Das ist schon teilweise so, dass die Ausbildung dann erst am Einsatzort stattfindet“, sagt ein Gruppenführer im Gespräch. Es wäre „sicher wünschenswert“, wenn das anders wäre, aber „ganz klar“ habe, wenn es nicht genug Geräte für alle gebe, der Schutz der Kameraden im Auslandseinsatz Vorrang. Mehr will er nicht dazu sagen. Außer: Er fühle sich „trotzdem auf höchstem Niveau ausgebildet“ und werde wieder runter gehen.

Der Gruppenführer hat die Nachricht vom Tod der Kameraden „zufällig im Videotext gesehen“, kurz nach Mitternacht. „Das war ein Schock“, sagt der 31-Jährige: Drei deutsche Soldaten im Raum Kundus getötet – „da war mir gleich klar, das können nur unsere Leute sein.“ Die Meldung ist ihm in die Knochen gefahren. Das ist ihm anzusehen. Auch sieben Tage später noch. Man hat sich ja gekannt, aus Übungen, ist zusammen aus dem Flugzeug gesprungen, hat miteinander gequatscht. Jetzt sind sie tot. „Warum?“, hat er sich immer wieder gefragt. „Warum ausgerechnet die? Warum überhaupt?“ Die senkrechte Furche auf seiner Nasenwurzel lässt ahnen, dass er keine Antwort darauf hat.

Jeder geht anders um mit dem Gefühl der Hilflosigkeit, der Trauer und der Wut. Der eine weint, der andere lenkt sich ab, liest, daddelt am Computer, der Dritte verstummt – „ich stand mit meiner Freundin am Osterfeuer, aber ich war gar nicht richtig dabei“, sagt Zugführer Peter Schmidt, der seinen richtigen Namen lieber für sich behält und dessen Blick auch jetzt in die Ferne schweift. Am Ende, sagt der 39-Jährige, fänden sich fast alle im Gespräch wieder. Mit den Kameraden und Freunden, mit dem Truppenpsychologen oder Seelsorger. Zu merken, man ist nicht allein, das sei das Wichtigste.

Und beim Gedanken an den nächsten Einsatz: Kommt da jetzt die Angst hoch? „Angst ist der falsche Ausdruck, aber man macht sich ’nen Kopp.“ Dabei weiß, wer nach Kundus kommt, wie gefährlich der Einsatz ist, sagt Schmidt. „Niemand geht blauäugig da runter.“ Man kann sterben. Der Satz ist immer da. Gehört zur Ausbildung, zu den Übungsszenarien, um „klar zu machen: das hier ist kein Spiel“. Zweifel, ob er das Richtige tut, hat er nicht. Jeder Beruf habe seine Gefahren, sagt er, es habe ja auch „jeder eine Familie, die er liebt“. Aber, und Schmidt holt tief Luft vor dem nächsten Satz, er sei aus Überzeugung dabei.

Die Überzeugung, dass der Auftrag einen Sinn hat, brauchen sie jetzt. „Die Antwort liegt in der Zukunft“, sagt Hauptmann Gornik auf die Frage, was der Einsatz am Hindukusch bringt. Wenn die Bundesregierung jetzt sagen würde, „wir ziehen nächste Woche ab, dann war es sinnlos – wenn wir es aber schaffen, auf lange Sicht da eine gewisse Stabilität rein zu kriegen, dann kann man rückblickend sagen, ja, das war sinnvoll.“ Als Soldaten, sagt Gornik, seien sie keine Abenteurer, Kriegstreiber oder Mörder. Sondern sie hätten einen Auftrag, „ausgehend von Volkes Wille, durch die Politik an uns gerichtet. Das ist es doch, wofür Demokratie eigentlich steht.“

Nun ist das mit Volkes Wille so eine Sache. Der Afghanistankrieg ist unpopulär, in allen Staaten gehen der Nato die Völker von der Fahne. Der Ruf nach einem baldigen Ende des Einsatzes wird lauter. Und er schwillt, wenn es Tote zu beklagen gibt, schnell zum Schrei nach einem sofortigen Abzug an. In der St.-Lamberti-Kirche in Selsingen, die 1725 erbaut wurde und nach einem mittelalterlichen Märtyrer benannt ist, liegen auf dem holzgeschnitzten Altartisch, zu beiden Seiten der Bibel, kleine lilafarbene Kärtchen. Sie sind von Kinderhand beschrieben. Mit guten Wünschen, die Volkes Wille womöglich näher sind: Kraft und Glück und Gottes Segen für die Familien, Friede auf Erden und dass nicht noch mehr Soldaten sterben müssen.

Die Feldsteinkirche in St. Lamberti, sagt ein Soldat, sei „eigentlich zu klein“ für solche Ereignisse wie heute. „Da überlegen wir schon, wo und wie wir das in Zukunft machen können.“

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