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Politik: „Die Angst hat sich verschärft“

Der Mediziner Thomas Fuchs über Tod und Suizid in einer Gesellschaft, die das Sterben nicht akzeptieren will

Der Selbstmord wird auch Freitod genannt, aber kann es das überhaupt geben – einen wirklich freiwilligen Tod?

Nur sehr bedingt. Wenn sich jemand selbst tötet, kann man meist davon ausgehen, dass seine Entscheidungsfreiheit eingeschränkt oder ganz aufgehoben war. Ist ein Mensch in einer Notlage und hat dazu noch eine Depression, ist seine Wahrnehmung minimiert und es fällt ihm schwer, Auswege zu erkennen. Ein so genannter Bilanz-Selbstmord, bei dem eine überlegte Abwägung von Für und Wider nach einer langen Lebensstrecke stattfindet, ist dagegen selten.

Stirbt ein Angehöriger, wollen die Hinterbliebenen das häufig verbergen. Woher rührt diese Scham?

Eine Selbsttötung mag ein einsamer Akt sein, er enthält jedoch auch eine Aussage an die anderen. Ich habe mich euch nicht mehr zugehörig gefühlt, sagt er. Das löst bei Verwandten und Freunden Schuldgefühle aus. Auch ist Suizid stigmatisiert, weil die Gesellschaft sich schwer mit Scheitern tut. Selbstmord ist doppeltes Scheitern: Das eines Menschen am Leben und das seiner Mitmenschen an ihrer Beziehung zu ihm.

Nicht nur der Selbstmord, auch der Tod an sich ist ein Tabu.

Das liegt daran, dass wir uns nicht vorstellen können, was es heißt, tot zu sein. Zwar lernt um das fünfte Lebensjahr herum jeder, dass Menschen sterben, aber es bleibt ein abstraktes Wissen. Das ist durchaus lebenspraktisch, denn im Alltag müssen wir davon ausgehen, dass wir weiterleben werden, sonst könnten wir nichts planen. Die mangelnde Vorstellungskraft ist aber nur das eine, die Angst vor dem Nicht-Mehr-Sein das andere. Die hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verschärft: Früher war der Tod gegenwärtig, er passierte häufiger und meist zu Hause, der Gedanke ans Ende hat sich fast aufgedrängt. Heute können wir ihm aus dem Weg gehen, weil der Tod in Krankenhäusern stattfindet. Das macht den Tod noch bedrohlicher. Was die Angst außerdem erhöht hat: Früher waren Menschen auf ein gemeinsames jenseitiges Leben ausgerichtet. Der Glauben ist weggebrochen, dadurch ist der Tod nochmal einsamer.

Wie könnte die Gesellschaft künftig mit dem Tod umgehen?

Derzeit findet rundum massive Todesverdrängung statt, das erkennt man an der Beliebtheit von Extremsportarten. Oft versuchen gerade Menschen mit Todesangst auf diese Weise über den Tod zu triumphieren. Ein anderes Indiz dafür, dass man den Tod nicht akzeptieren will, sehe ich in der allgemeinen Beschleunigung. Mitunter leben Menschen so, als wollten sie gleich zwei oder drei Leben in ihr eines packen. Sie haben so viel Erlebnishunger, als hätten sie Angst, nicht genug Leben abzubekommen. Dabei könnte sie eine Hinwendung zum Thema des Todes reicher machen. Kostbar wird etwas ja erst dann, wenn man es verlieren kann.

Thomas Fuchs (49) ist Philosoph und Mediziner. Er ist Professor für Psychiatrie an der Universität Heidelberg und Oberarzt am Universitätsklinikum. Interview: Verena Friederike Hasel.

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