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Hunderttausende engagieren sich ehrenamtlich.

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Flüchtlingskrise: Die Anwälte für Menschen in Not

Noch nie wurden Wohlfahrtsverbände so beachtet wie in der Flüchtlingskrise. Mehr Einfluss gewinnen sie deshalb noch nicht. Aber sie arbeiten daran.

Im Sommer vor einem Jahr, als immer mehr Menschen in Syrien aufbrachen und nach Europa flohen, stand das Deutsche Rote Kreuz vor einer nie dagewesenen Herausforderung. Eine Nothilfe dieser Art habe das DRK bis dahin im Ausland geleistet. Bei Erdbeben und schweren Stürmen. Aber nicht hier, in Deutschland. Abgesehen vom Elbhochwasser vor drei Jahren. Doch dann kamen die Flüchtlinge – und die Arbeit von allen sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege änderte sich radikal.

Seitdem es sie gibt, verstehen sich AWO, Caritas, Der Paritätische, die Diakonie, das DRK und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland als Anwälte für Hilfebedürftige. Für Menschen in Not. Deswegen haben sie schon vor dem Sommer 2015 Anlaufstellen für Asylsuchende und Migranten gehabt. Nur nicht in dieser Intensität. Im vergangenen Jahr haben die Verbände ihre Arbeit in der Flüchtlingshilfe ausgebaut und neue Projekte entwickelt. Sie haben mit ihren Mitgliedsorganisationen Not- und Gemeinschaftsunterkünfte geschaffen und betreiben sie seitdem. „Mehrere Hunderte haben wir aufgebaut, praktisch aus dem Nichts heraus“, sagt DRK-Sprecher Dieter Schütz. Die Verbände betreuen minderjährige Flüchtlinge, die ganz alleine sind, und Traumatisierte. Sie bringen den Geflüchteten die deutsche Sprache bei und erklären ihnen das für sie fremde Lan

Mitarbeiter müssen qualifiziert werden

Wie viele Mitarbeiter die Verbände, die zum Teil zu den größten Arbeitgebern in Deutschland zählen, dafür eingestellt haben, können sie nicht genau sagen. Dafür seien sie zu dezentral organisiert. Die Diakonie zählt mindestens 5000 neue Stellen. „Das Personal im Flüchtlingsbereich wurde verdoppelt bis verfünffacht“, sagt Sebastian Ludwig, Referent für Asyl- und Flüchtlingspolitik. Das DRK habe mehrere tausend neue Stellen geschaffen, die Caritas spricht allein in Berlin von 90 Hauptamtlichen mehr.

Die zusätzlichen Kräfte sind hilfreich, aber beschäftigen die Verbände auch enorm. Vor der Flüchtlingskrise hätten die Mitarbeiter der Migrationsdienste mit dem Thema zu tun gehabt. Heute tangiere es auch die Angestellten im Kita-Bereich, in der Jugendhilfe und in den Schwangerschaftsberatungen. Deswegen sind die Verbände gerade damit beschäftigt, ihre Mitarbeiter interkulturell weiterzubilden. Überall gebe es Workshops zum Asylrecht und Fortbildungen zum Thema „Menschen auf der Flucht“.

Ein weiteres Personalproblem ist: Es gibt nicht mehr genügend Sozialarbeiter und Sozialpädagogen. Der Markt sei leer. „In manchen Regionen haben die sozialen Berufe Ingenieure als gefragteste Gruppe abgelöst“, sagt Ludwig von der Diakonie.

Unerwartete Dimension an Hilfe

Viele neue Mitglieder konnten die Spitzenverbände nicht dazugewinnen, wohl aber freiwillige Helfer. Und das, nachdem es vor ein paar Jahren hieß: Das Ehrenamt steckt in der Krise! Bei der Caritas würden sich generell rund 500 000 Menschen engagieren. Hunderttausend seien im vergangenen Jahr dazugekommen, um den Geflüchteten zu helfen. Die Diakonie geht von 120 000 neuen Helfern aus. Eine Dimension, die noch vor einem Jahr niemand erwartet hatte.

Doch auch hier besteht die aktuelle Herausforderung für die Verbände darin, die vielen Menschen einzuarbeiten und zu qualifizieren. Dazu kommt der Koordinationsaufwand. Wer kann wie helfen? Eine pensionierte Lehrerin solle immerhin eher bei den Deutschkursen als bei der Kleiderspende eingesetzt werden.

An diesem Punkt setzt ein Finanzierungsprogramm der Integrationsbeauftragten Aydan Özoguz an. Es heißt „Helfer brauchen Hilfe“. Für 2015 und 2016 stellte die SPD-Politikerin sieben Millionen Euro für die Unterstützung und Schulung der Ehrenamtlichen bereit. „Angesichts der hohen Flüchtlingszahlen stoßen Freiwillige zunehmend an ihre Grenzen“, sagte sie im Herbst. Und oft fehle es an einer richtigen Einarbeitung. Die Mittel wurden auf alle sechs Wohlfahrtsverbände verteilt, die das Geld wiederum an ihre Organisationen vor Ort weitergeben.

"Chaos" bei der Finanzierung

Generell finanzieren sich die Verbände über öffentliche Mittel von Bund, Ländern und Kommunen, über kirchliche Zuschüsse, Stiftungsmittel, Mitgliedsbeiträge und Spenden. Wie bei den Mitarbeiterzahlen können die Verbände aber nicht sagen, wie viele Gelder sie für die Flüchtlingshilfe zusätzlich bekommen haben. Der Überblick fehlt. Ein Fachexperte spricht von „Chaos“.

Heruntergebrochen hat beispielsweise die Caritas Berlin 1,8 Millionen Euro an zusätzlichen öffentlichen Mitteln für die Flüchtlingsarbeit bekommen. Schwierig dabei sei, dass die Gelder sich meist aus mehreren Quellen zusammensetzen, projektbezogen und oft nur für ein Jahr vergeben werden. Das mache es schwierig, Personal einzustellen, Strukturen aufzubauen und Netzwerkarbeit zu betreiben.

Wovon die Wohlfahrtsverbände momentan profitieren, sind unter anderem Mittel vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und Programme des Familienministeriums. Ministerin Manuela Schwesig (SPD) unterstützt unter anderem Patenschaften zwischen geflüchteten und hier lebenden Menschen mit zehn Millionen Euro. Sechs Millionen stellt sie zur Unterstützung psychosozialer Zentren für Flüchtlinge bereit.

Einwandfrei läuft die Finanzierung nicht. So wurde ein Bundesprojekt gestoppt, weil die Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen nicht geklärt waren. Es kommt nicht selten vor, dass dieses Dilemma zu Blockaden führt. Die Verbände sagen außerdem, dass die Gelder nicht wirklich ausreichen würden. „Man könnte sie locker verdoppeln und es wäre immer noch nicht zu viel“, sagt Holger Spöhr, Fachreferent vom Paritätischen in Berlin.

Immer mehr Meetings und Mails

Was die Spitzenverbände seit dem vergangenen Sommer außerdem belastet, ist ein gewaltiger bürokratischer Aufwand. Bei der Caritas wurde der Arbeitsbereich, der sich mit Flucht, Migration, Asyl beschäftigt, ausgeweitet. In Berlin wurde eine Extra-Stabsstelle zur Koordination der Flüchtlingshilfe eingesetzt. „Viele haben sich monatelang neben ihren eigentlichen Aufgaben zusätzlich in der Betreuung von Flüchtlingen eingesetzt“, sagt Pressesprecher Thomas Gleißner. Sondersitzungen und neue Arbeitsgruppen waren an der Tagesordnung. Die Zahl der Meetings und Mails hat stark zugenommen.

Bei der AWO wurde keine neue Fachabteilung geschaffen, sondern die Projektgruppe „Flucht“ gegründet, in der sämtliche Ressorts vertreten sind. „Wir haben das Thema zur Chefsache gemacht“, heißt es vom Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Stadler. Ihre anderen Arbeitsbereiche seien währenddessen nicht verkleinert oder vernachlässigt worden.

Regelmäßige Treffen mit Merkel

Positiv sei, dass die Spitzenverbände seit Monaten mehr wahrgenommen und gebraucht werden: Politiker laden sie zu Veranstaltungen und Runden Tischen ein, fragen nach ihren Erfahrungen, schätzen ihre Infrastruktur und Vernetzung. Einmal im Jahr treffen sich die Vorsitzenden der sechs Spitzenverbände mit Angela Merkel. Regelmäßig treffen sie sich mit der Kanzlerin und anderen NGOs. Sie diskutieren mit Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU), mit Ministern und Staatssekretären. Die Termine seien deutlich mehr geworden. In der Kleinstadt genauso wie in Berlin, wo sich eine Flüchtlingsveranstaltung an die nächste reiht.

Das bedeute aber nicht, dass die Wohlfahrtsverbände mehr Einfluss bei politischen Entscheidungen bekommen hätten. Wenn sie bei einem Gesetzentwurf, 60 Seiten dick, um eine Stellungnahme gebeten werden, dann manchmal einen Tag, manchmal acht Stunden zuvor. „Das ist dann nur eine Formalie“, sagt Ludwig von der Diakonie. Mitsprechen könnten sie, mitgestalten nicht. Wobei er allein wegen der vielen Organisations- und Finanzierungsfragen weniger politische Arbeit betreiben könne.

Bei Wolfgang Stadler ist das anders. Die Lobbyarbeit sei nach wie vor ein wichtiger Teil seiner Arbeit. Er stellt fest, dass die Verbände ihre Positionen momentan stärker einbringen können. Er glaubt, dass die Aufnahme der Flüchtlinge ohne die Hilfe der Bürgergesellschaft so nie möglich gewesen wäre. „Jetzt, wo sie mehr im Fokus stehen, müssen sich die Verbände aber auch beweisen“, sagt er. Ihre Rolle ist größer geworden. Der Anspruch an sie auch.

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