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Ein Schild mit der Aufschrift "Meinen Hass kriegt ihr nicht" steht in der Altstadt von Ansbach.

© Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Die Debatte über Migration in Deutschland: Faktor Religion

Der Psychologe Uslucan relativiert den Zusammenhang von Glauben und Gewalt. Die Religion werde überschätzt, argumentiert er.

Vier Gewalttaten haben Deutschland zuletzt bewegt. Die Täter verbindet wenig. Nur eines scheint für alle klar zu sein: Der Axt-Attentäter von Würzburg, der Amokläufer in München, der Messerstecher von Reutlingen und der Attentäter von Ansbach haben alle einen Migrationshintergrund. Dass sich der Münchener Amokläufer als „Deutscher“ bezeichnet hat und sich als „Arier“ fühlte, spielt in der Diskussion über die Anschläge kaum eine Rolle. Deshalb wünscht sich der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Sitftungen für Integration und Migration, Professor Haci Halil Uslucan, eine „sachliche Debatte“ über Gewalttaten und die Zugehörigkeit möglicher Täter zu Migrantengruppen. Ein „nüchterner Diskurs“ wäre auch für die Prävention hilfreicher, sagte er dem Tagesspiegel.

Uslucan ist derzeit ein viel gefragter Fachmann. Der Psychologe hat jahrelang über junge Gewalttäter geforscht, und er leitet das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Nach dem Putsch und der darauf folgenden Verhaftungswelle in der Türkei ist er häufig nach seiner Einschätzung gefragt worden. Die Öffentlichkeit in der Türkei, erzählt er, sei noch polarisierter als die deutsche.

Gelebte Religiösität sei eher gewaltpräventiv

In der hiesigen Debatte bedauert Uslucan, dass wieder viel über den Islam diskutiert wird. Er sagt: „Religion wird bei der Bewertung von Gewalttaten überschätzt.“ Tatsächlich wirke „gelebte Religiosität sogar eher gewaltpräventiv, weil sie die Menschen stärker in eine Gemeinschaft einbindet“, sagt er. Seine Forschungen über junge Gewalttäter mit und ohne Migrationshintergrund haben ergeben, dass es einen Zusammenhang zwischen „früher Traumatisierung, Gewalterfahrungen in der Familie und eigener Gewaltneigung gibt“. Mit anderen Worten: Kinder, die geschlagen werden, geraten schneller in Gefahr, selbst zu Gewalttätern zu werden. Uslucan argumentiert, dass bei Gewalttaten generell frühe Sozialisationserfahrungen wie etwa eine strafende Erziehung eine wichtigere Rolle spielten als der ethnische Hintergrund. Das hat der Psychologe in mehreren Projekten herausgefunden, bei denen es in Ostdeutschland wie in Westdeutschland darum ging, zu ermitteln, was aus jungen Männern Gewalttäter macht. Dabei ist ihm auch aufgefallen, dass bei jungen Frauen beispielsweise Diskriminierung, die von den jungen Männern oft als Motivation genannt wurde, nicht unmittelbar zu Gewalt führt. Dabei machen vor allem junge Frauen, die das Kopftuch tragen, häufig die Erfahrung, dass sie deshalb schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben oder es sogar Kopftuchverbote gibt, wie beispielsweise für Lehrerinnen in Berlin. „Da ist die Prägung über die weibliche Erziehung viel stärker“, sagt Uslucan.

Professor Haci Halil Uslucan ist Vorsitzender des Sachverständigenrates für Migration der deutschen Stiftungen.
Professor Haci Halil Uslucan ist Vorsitzender des Sachverständigenrates für Migration der deutschen Stiftungen.

© Sachverständigenrat

Mit Blick auf die Attentäter von Würzburg und Ansbach sagt Uslucan: „Im Fall von terroristischen Gewalttaten scheinen die treibenden Kräfte vielmehr Erfahrungen von Ausgrenzung, die wahrgenommene Entwertung der islamischen Welt und ein autoritäres Rollenverständnis zu sein.“ Je mehr Attentate im Namen des Islam verübt werden, desto stärker reagiert die Mehrheitsgesellschaft mit Ausgrenzung. Schließlich werden die Anschläge verübt, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Daraus ergeben sich neue Ausgrenzungserfahrungen. Aber all das müsse „nicht notwendigerweise zu Gewalt führen“, sagt Uslucan seit Jahren. Moscheegemeinden trösten sich oft damit, dass die Attentäter sich längst aus den religiösen Bezügen gelöst haben. Aber den Tätern dient der Koran als Bezugsrahmen und als Rechtfertigung, heißt es im aktuellen Jahresgutachten des Stiftungsrates.

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