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Politik: Die Elbmarsch, die Leukämie und die Atomkraft

Seit Jahren wird erfolglos nach der Ursache für Blutkrebsfälle bei Kindern gesucht – jetzt sind wieder zwei Jugendliche erkrankt

„Es hat etwas Unheimliches, etwas Bedrohliches.“ So beschreibt die Ärztin Susanne Greunus aus der niedersächsischen Elbmarschgemeinde Marschacht die vielen Leukämiefälle in ihrer Region. Seit eineinhalb Jahrzehnten sucht man östlich von Hamburg vergeblich nach den Ursachen. Je länger man nach einer Antwort forscht, desto mehr Fragen tauchen auf.

Nein, das könne kein Zufall sein, glaubt Olaf Schulze, SPD-Landtagsabgeordneter aus Geesthacht. In der 29 000-Einwohner-Stadt ist vor wenigen Tagen der 16. regionale Kinderleukämiefall seit 1984 bekannt geworden. Die behandelnden Ärzte müssen die Krankheit bei Kindern melden, folglich verfügt man über ein aussagekräftiges Kataster. Im Bundesschnitt gibt es aber nur vier Erkrankungen je 100 000 Kinder im Jahr. Heruntergerechnet auf den Cluster der Untersuchungsregion dürfe daher eigentlich nur ein Fall in 60 Jahren vorkommen. Diese bundesweit einmalige Anhäufung schürt Angst.

Ein böser Verdacht liegt nahe, da sich auf schleswig-holsteinischer Seite der Elbe das Atomkraftwerk Krümmel und die Forschungsanlage der Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt (GKSS) befinden. Es hat seit 1992 umfangreiche Untersuchungen gegeben, doch ein entsprechender Zusammenhang konnte bis heute nicht nachgewiesen werden.

Und nun dieser neue Fall – ein Keulenschlag für die ansässige Bevölkerung. Seit 1994 ist es der achte Fall in Geesthacht, diesmal im Ortsteil Grünhof-Tesperhude, dort, wo sich in unmittelbarer Nähe die GKSS befindet und wo Sozialdemokrat Schulze wohnt. Doch nur ungern redet man darüber. Joachim Masch, Pastor in der Kirchengemeinde, bemüht dafür das Sprichwort „Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.“ Er kennt das jetzt erkrankte zwölfjährige Mädchen. Die Mutter arbeitet in der St.-Thomas-Gemeinde.

GKSS und Kernkraftwerk gehören zu den größten Arbeitgebern in Geesthacht und damit zu den besten Gewerbesteuerzahlern. Da wertet man den vagen Verdacht gegen die Einrichtungen schnell als Verschwörung. Beide Werke können sich auf das Sozialministerium in Kiel stützen, die zuständige aufsichtführende Reaktorsicherheitsbehörde. Dort bekräftigt man, dass es bis heute keine Anhaltspunkte gibt, dass die Leukämiefälle etwas mit den atomaren Anlagen zu tun haben. Millionen Euro wurden bereits für die Erforschung der Ursachen ausgegeben. Für Uwe Harden, SPD-Abgeordneter in Niedersachsens Landtag, reicht das aber nicht aus. Er, der nur wenige Kilometer von Geesthacht entfernt wohnt, ist zugleich Gründer und Sprecher der Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch. Harden wünscht sich, dass die Kieler Landespolitiker wieder aktiv werden. Eine erste Untersuchungskommission stellte zuletzt 2004 ihre Arbeit ein. Auf Betreiben der Grünen kommt das Thema diese Woche auf die Tagesordnung des Kieler Landtags. Sie fordern ein Kolloquium, an dem sich unabhängige Wissenschaftler, die bisher im Auftrag der Behörden und der Bürgerinitiative gewirkt haben, an einen Tisch setzen.

Unterdessen ist ein weiterer Blutkrebsfall eines 15-jährigen aus Winsen, 14 Kilometer von Geesthacht entfernt gelegen,bekannt geworden. Der Patient hatte als kleiner Junge mit seiner Mutter an der Elbe gespielt und auch im Fluss gebadet. „Da schlummert vielleicht noch mehr“, ahnt Susanne Greunus, die von auffällig vielen Leukämieerkrankungen und -todesfällen bei Erwachsenen berichtet.

Dieter Hanisch[Geesthacht]

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