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Politik: Die Erste

Von Tissy Bruns

Die Frage ist längst beantwortet, ob Frauen das können. Jedenfalls anderswo: Golda Meir, Maggie Thatcher, Tansu Ciller haben bewiesen, dass Vater Staat von Müttern geführt werden kann. Angela Merkels Wahl zur Bundeskanzlerin ist trotzdem alles andere als ein normaler Vorgang. Der Zufall, dieser wichtige Gestalter in der Politik, hat es nämlich so gefügt, dass die erste Frau außerdem Ossi ist und obendrein Regierungschefin einer großen Koalition mit praktisch gleich starken Partnern wird. Also alles neu! Und um Erneuerung soll es ja gehen. Nicht schlecht inszeniert, Herr Zufall. Wo so viel Ungewöhnliches zusammentrifft, da glaubt man leichter an den Aufbruch.

Nun hat das Neue aber auch eigentümliche Tücken. Wenn es an ein Ziel gelangt, sieht es oft anders aus als ganz am Anfang, als seine Verwirklichung noch Wunsch und Sehnsucht war. Die Kanzlerin selbst wollte ja eine ganz andere Koalition führen. Viele Ossis wiederum finden, dass diese Erste an der Spitze des Landes keine mehr von ihnen ist. Was bedeutet Merkel schon für die Frauenemanzipation? Bei der Bundestagswahl hat sich die Frauenmehrheit auf Gerhard Schröders, nicht auf ihre Seite geschlagen. Ausgerechnet eine Christdemokratin hat es geschafft, eine, die man, wenn es um Frauenfragen geht, zum Jagen tragen muss. Verwirklichte Träume sind immer mit Enttäuschungen durchsetzt.

Die Frauen und die Ossis können ein Lied davon singen. Nie ist es Zeit, die frisch gewonnene Freiheit nur zu feiern. Immer werden sofort die nächsten Grenzen sichtbar, folgen auf neue Rechte Pflichten, Verantwortung, Anforderungen. Angela Merkel geht es nicht anders als allen Frauen, die diese Erfahrung machen mussten. Eine vielversprechende Konstellation. Wenn eine Frau zum ersten Mal das wichtigste Amt der Politik besetzt, dann bedeutet das natürlich etwas für alle Frauen. Ein Vorbild ist da. Aber in den Mühen der Ebene muss die Politikerin sich schließlich bewähren; dort können sich Aufbruch und Erneuerung gegen die Enttäuschungen nur durchsetzen, wenn die Akteurin an der Spitze begreift: Sie ist uns entschieden etwas schuldig.

Sie wäre Bundeskanzlerin nicht geworden, wenn sie allein auf ihr beachtliches Machtstreben hätte bauen müssen. Natürlich steht Angela Merkel mit ihrem Erfolg auf den Leistungen der Feministinnen und unzähliger Frauen, die das Land tiefer verändert haben als tausend Gesetze aus dem Bundestag. Merkel weiß das – und hat für ihren Aufstieg in der Union die Frauenfragen wohlweislich zurückgestellt. Wenn in dieser Partei schon eine Vorsitzende ausgehalten werden muss, dann bitte nicht auch noch allgemeine Frauenrechtlerei. Doch dieser Preis, den Merkel gezahlt hat, ist vergleichsweise gering. Der Wahlabend hat ihr eine andere, bittere Wahrheit gezeigt. Mit ihr, der Frau in einer stark männlich geprägten CDU, Reformerin in einer Volkspartei, der schwarz-gelben Vorkämpferin, ist die Union zur 35-Prozent-Partei geworden. Und jede verlorene Wählerstimme hat ihre eigene Kontur abgeschliffen. Das Bild der fassungslosen Merkel vom Wahlabend zeigt eine Frau ohne Eigenschaften.

Angela Merkel, die als CDU-Vorsitzende ihr Profil gefunden hatte, muss zur politischen Persönlichkeit als Kanzlerin erst wieder werden. Sie selbst, die erste im Land, steht zuallererst unter Veränderungsdruck. Es ist keine Frage, dass ihr ein großes Potenzial zur Verfügung steht, vor allem Klugheit und die Erfahrung der politischen Langstreckenläuferin. Sie bringt mehr mit als den ausgeprägten Machtinstinkt, den Freund und Feind ihr bescheinigen oder ihre beachtliche Fähigkeit, ihre Gegner frontal oder mit den Mitteln subversiver Fantasie zu besiegen.

Noch ist Merkel keine Kanzlerin, an die Frauen und Männer ihre Hoffnungen und Wünsche heften möchten. Was ihr dazu fehlt? Für Frauen gibt es auf dem Weg an die Spitze keine Vorbilder; sie lernen deshalb eine andere Einsamkeit kennen als Männer, eine, die zur Vorsicht rät. Doch die weckt nie Vertrauen. Nicht allein Klugheit und Verstand braucht Merkel zur Offenheit, sondern den Mut zur ganzen Person.

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