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Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament, Rebecca Harms.

© promo

Die EU und Erdogan: "Die Europäische Union darf nicht kuschen"

Die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, warnt die EU davor, sich wegen der Flüchtlingsvereinbarung mit Ankara mit Kritik am türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zurückzuhalten.

Frau Harms, nach dem Putschversuch verschärft die türkische Regierung ihren Kurs gegen Widersacher immer weiter. Ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan noch ein brauchbarer Partner für die EU?

Der türkische Präsident Erdogan missachtet seit dem Putschversuch Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Angemessenheit der Mittel. Er verfolgt, soweit ich das beurteilen kann, Tausende, die er für den gescheiterten Militärputsch mitverantwortlich machen will. Er versucht noch konsequenter als zuvor, politische Widersacher und Kritiker matt zu setzen und die Macht auf sich zuzuschneiden. Die bisherige Politik der EU gegenüber der Türkei wird so natürlich völlig in Frage gestellt.

Als die EU im März die Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei schloss, waren der Putsch und der Gegenputsch so noch nicht absehbar. Jetzt erklärt die Regierung in Ankara, dass die Umwälzungen in der Türkei nichts an der Einhaltung der Flüchtlingsvereinbarung änderten. Kuscht die EU vor der Türkei – aus Angst, dass der Flüchtlingsdeal platzt?

Die Europäische Union darf nicht kuschen. Die EU muss sich darauf vorbereiten, dass mehr Flüchtlinge aus der Krisenregion rund um Syrien – also auch aus der Türkei – aufgenommen werden müssen. Wir müssen ja auch mit mehr türkischen Flüchtlingen rechnen. Ich war immer der Meinung, dass das Abkommen mit Ankara notwendig ist, um die Situation der Flüchtlinge in der Türkei zu verbessern. Ich habe aber auch stets vertreten, dass die EU-Mitgliedstaaten mehr Flüchtlinge aus der Türkei und anderen Nachbarstaaten Syriens direkt übernehmen müssen, wie das die Vereinten Nationen seit langem fordern. Die Abhängigkeit von der Türkei in der Flüchtlingsfrage ist ja erst dadurch entstanden, dass sich Staaten der EU weigern, mehr Kriegsflüchtlinge aus Syrien direkt aufzunehmen.

Sollen die Beitrittsgespräche zwischen der EU und der Türkei angesichts des autoritären Auftretens Erdogans beendet werden?

Es ist keine besonders starke Maßnahme, wenn man Beitrittsgespräche stoppt, die seit langer Zeit in der Tendenz eingefroren waren. Derzeit erscheint es sowohl für die Türkei als auch für die EU völlig sinnlos, zu verhandeln. Aber bevor in einer akuten Situation alles über Bord geworfen wird, was bisher galt, sollte zwischen EU-Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten geklärt sein, wie die Beziehungen zur Türkei aussehen sollen, wie und wer in Zukunft miteinander redet.

Also soll EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker einen Alternativplan zum Beitritt zur Europäischen Union vorlegen?

So würde ich das nicht sagen. Jetzt, in dieser aufgeheizten Stimmung, ist nicht der Moment , um die weitreichende strategische Frage zu klären, wie die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei langfristig aussehen sollen. In der gegenwärtigen Situation muss sich die EU zunächst mit den dringendsten Fragen beschäftigen: Wie kann man diejenigen schützen, die in der Türkei zu Unrecht zu Opfern der Abrechnung der Regierung mit den Putschisten werden – ohne rechtsstaatlichen Schutz und unter der Androhung von Folter? Und könnten wir die Einführung der Todesstrafe verhindern?

Wie kann die EU aktiv denen zu Hilfe kommen, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind?

EU-Kommissionschef Juncker und die EU-Außenbeauftragte Mogherini müssen direkt mit der türkischen Regierung über die Lage, die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei reden. Es reicht nicht, wenn sie nur Erklärungen von Brüssel aus abgeben. Sie müssen in einen direkten Dialog dazu mit Ankara kommen.

Aber was passiert, wenn dieser Dialog zu keinem Ergebnis führt?

Ich weiß nicht, ob Gespräche mit Ankara zu einer besseren Situation führen würden. Ich weiß aber wegen der Nachrichten zum Beispiel von Freunden aus der Türkei, dass das versucht werden muss. Wir sollten uns daran erinnern, dass Angela Merkel und andere noch bis vor kurzem mit dem Präsidenten und der Regierung der Türkei das Flüchtlingsabkommen abgeschlossen, über eine Visaliberalisierung gesprochen und Verhandlungen vorbereitet haben. Und eines gilt auch: Nicht nur wir haben ein Interesse an der Türkei, auch die Türkei hat Interessen gegenüber der EU oder Deutschland.

Stichwort Visaliberalisierung: Damit türkische Bürger ohne Visa in die EU einreisen können, muss Ankara zunächst zahlreiche rechtsstaatliche Kriterien erfüllen. Kann es angesichts des überharten Durchgreifens des türkischen Präsidenten gegen vermeintliche Sympathisanten der Putschisten jemals zur Visafreiheit kommen?

Bereits vor den Massenverhaftungen und massenhaften Entlassungen, vor der Schließung von Universitäten und Schulen in der Türkei hat Ankara die Kriterien für die Visafreiheit nicht erfüllt. Das jetzige Vorgehen von Erdogan ist unvereinbar mit der Visaliberaliserung.

Grünen-Parteichef Cem Özdemir hat sich für EU-Sanktionen gegen die türkische Regierung ausgesprochen, falls Erdogan an seinem Kurs festhält. Nach seiner Meinung muss man darüber nachdenken, Konten und Vermögen von Personen aus dem direkten Umfeld Erdogans einzufrieren. Sind Sie einverstanden?

In der Türkei gibt es Massenfestnahmen und noch mehr Entlassungen. Vermeintliche Regierungsgegner haben Geständnisse abgelegt, von denen man befürchten muss, dass sie unter Folter zu Stande gekommen sind. Reisepässe wurden eingezogen. Es gibt keine Pressefreiheit mehr. Im Südosten war in vielen Städten die Lage schon vor dem Putsch wie im Bürgerkrieg. Angesichts dieser bedrohlichen Entwicklungen in der Türkei steht auch an, über Sanktionsmöglichkeiten nachzudenken. Dringenden Vorrang sollte akut aber etwas anderes haben: Durch Diplomatie und Dialog müssen EU-Kommissionschef Juncker, die Außenbeauftragte Mogherini und Erweiterungskommissar Hahn, unterstützt aus den Mitgliedstaaten, versuchen, den Tausenden, die in der Türkei einfach zu Terroristen oder ihren Unterstützern erklärt werden, Schutz zu geben. Bislang fehlt es von der EU-Seite trotz der krisenhaften Entwicklung an wahrnehmbarer Bereitschaft zur klaren Auseinandersetzung mit der türkischen Regierung.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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