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Politik: Die Form verloren

Die Richtermehrheit rügt Berlins Regierenden Bürgermeister – er habe die Abstimmung im Bundesrat „gelenkt“

Von Jost Müller-Neuhof,

Karlsruhe

Erst ein Urteil, dann ein Lob. „Sehr dicht“ sei die Begründung, weshalb das Zuwanderungsgesetz nichtig sei, sagt der Vorsitzende Richter Winfried Hassemer. Es gilt seinem Kollegen Udo Di Fabio, der es geschrieben hatte. Und weil es so dicht ist, fährt Hassemer fort, will er nur Wesentliches sagen. Dann kommt es dicht – und vor allem dick. Dick für den Berliner Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, in der umstrittenen Sitzung über das Zuwanderungsgesetz der amtierende Bundesratspräsident und als solcher die Schlüsselfigur des Verfahrens. Das Urteil gilt mehr ihm als irgendeinem anderen Protagonisten. Erwartet worden waren ein paar klare Worte zum Theater im Bundesrat. Aber die rechtliche Bewertung des Stücks würdigt vor allem den Sitzungsleiter: Klaus Wowereit.

Berlins Bürgermeister hat nach dem Urteil der Richtermehrheit die Verfassung gebogen. Nur im ersten Durchgang der Abstimmung, als Brandenburgs Sozialminister Alwin Ziel Ja rief und Innenminister Jörg Schönbohm Nein, habe er sich richtig verhalten. Denn da habe er die fehlende Einheitlichkeit der Stimmabgabe korrekt festgestellt. Damit, meinen die Richter, war die Sache gelaufen. „Wowereit hatte nicht das Recht zur Nachfrage – und wenn, dann hätte er auch Schönbohm fragen müssen“, sagt Hassemer.

Stattdessen wandte sich Wowereit direkt an Brandenburgs Ministerpräsidenten Manfred Stolpe – und bewegte sich so „außerhalb der Form“. Dann setzt es für den Juristen Wowereit noch einen Rüffel, den er verstehen wird: Angesichts der Vorrede Schönbohms in der Bundesratsdebatte habe dem Präsidenten in dieser Situation klar sein müssen, dass Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt habe. Seine Nachfrage bei Stolpe sei „eine Lenkung des Abstimmungsverhaltens, zu der er nicht befugt war“.

Hassemer übergibt das Wort an den strengen Di Fabio, der noch deutlicher wird: Wenn überhaupt, sagt er, hätte Wowereit das Land als Ganzes fragen müssen oder Schönbohm selbst. Dass dieser brummelte, seine Meinung sei bekannt, hätte – abgesehen davon, dass das Jein juristisch festgestanden habe –, „die Pflicht zur Nachfrage nur noch verstärkt". Das Urteil allerdings ist so uneinheitlich wie seinerzeit die Stimmabgabe in der Länderkammer. Zwei Richterinnen sind vernehmlich ausgeschert und schrieben abweichende Voten auf, einer blieb schweigend auf ihrer Seite oder stimmte mit der Mehrheit.

Auch die deutschen Staatsrechtslehrer, die sich mit der Frage bislang nur am Rande befasst hatten, verteilten sich auf zwei Lager, die mit den politischen weitgehend identisch sind. Ähnliches, vermutete man, könnte im Gericht geschehen. Dort sitzen je vier Richter, denen Union und SPD die Steigbügel in das höchste Richteramt gehalten hatten. Ein Vier-zu-vier-Patt hätte die Verfassungsklage der Unions-Länder scheitern und das Gesetz passieren lassen. Aber diese parteiliche Treue zählt nicht in Karlsruhe, schon gar nicht in Verfahrensdingen, die Juristen besonders am Herzen liegen. Deshalb kann es auch gut und gerne eine Entscheidung mit sechs zu zwei Stimmen gewesen sein.

Die Richterin Gertrude Lübbe-Wolff macht einen eher aufmüpfigen Eindruck, als sie das mit der Kollegin Lerke Osterloh geteilte Minderheitsvotum verliest. Beide werden dem roten Lager zugerechnet, aber hier sprechen die Juristinnen. Auch Lübbe-Wolff nimmt einen Darsteller aufs Korn: Jörg Schönbohm. Brandenburgs Innenminister, der Nein sagen, aber dennoch seine Koalition mit der SPD retten wollte – es ist ihm gelungen, hätte ihm aber nach Auffassung von Osterloh und Lübbe-Wolff nicht gelingen dürfen. Beide respektieren sein Nein im ersten Durchgang. Dann aber hätte Wowereit sehr wohl nachfragen dürfen, gerade weil die Stimmen im Bundesrat einheitlich abzugeben seien. Doch was kam? Eine „Auffassung“, aber keine Stimme. Deren Abgabe habe im zweiten Durchgang nicht mehr stattgefunden. „Nach dem Grundgesetz kommt es auf die Einheitlichkeit der Stimmen an, nicht auf die Einheitlichkeit der Auffassungen“, sagt Lübbe-Wolff spitz.

Beide Seiten, Mehrheit wie Minderheit, nehmen vor allem den Verlauf der Abstimmung unter die Lupe. Einmal ist Wowereit der Buhmann, einmal Schönbohm. Der CDU-nahe Di Fabio hatte bereits vor einiger Zeit durchblicken lassen, das Gericht werde deutlich sagen, was es von der Show hält. Dass er dies nur auf Wowereit bezog, blieb damals noch sein Geheimnis.

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