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Politik: Die Gefahr segelt mit

Die Marine hat die Ausbildung von Offiziersanwärtern auf der „Gorch Fock“ nach einem weiteren Todesfall ausgesetzt

Berlin - So manchen Sturm hat die Mannschaft der „Gorch Fock“ auf ihren Fahrten durch die Weltmeere erlebt, mit meterhohen Wellen, Windböen und rauer See. Wenn die Segel gesetzt sind und ein Unwetter aufzieht, muss alles schnell gehen an Bord des Segelschulschiffs der Marine: 40 bis 50 Soldaten klettern dann die drei Masten des Schiffes hoch, um die mehr als 20 Kunststoffsegel in schwindelnder Höhe zu bergen und festzuzurren.

Als Obermaat Sarah Seele Anfang November jenem Kommando ihres Vorgesetzten folgte und den Hauptmast des Großseglers enterte, lag die „Gorch Fock“ aber im Hafen von Salvador de Bahia (Brasilien). Die 25-jährige Offiziersanwärterin war erst wenige Tage zuvor an Bord gegangen, um auf dem Atlantik vor Südamerika ihre seemännische Ausbildung zu absolvieren. Den Aufstieg meisterte die Soldatin ohne Probleme. Doch dann verlor Seele in 27 Metern offenbar den Halt, stürzte durch die Takelage und prallte aufs Deck. Die Soldatin verletzte sich schwer und starb wenige Stunden nach ihrem Sturz im Krankenhaus.

Es ist der sechste Todesfall, der sich auf der „Gorch Fock“ zugetragen hat – der zweite innerhalb von zwei Jahren. Ein ähnlicher Unfall ereignete sich im Jahr 1998, als ein 19-jähriger Matrose bei einer Ausbildungsfahrt aus zwölf Metern Höhe vom Großmast fiel. Er erlag seinen Kopfverletzungen. Im September 2008 stürzte die 18-jährige Offiziersanwärterin Jenny Böken auf dem Segelschulschiff bei der Nachtwache in die Nordsee und erstickte in der Gischt. Die Marine geht davon aus, dass es sich bei den Vorkommnissen um Unfälle handelt. Unfälle, die vielleicht hätten verhindert können. So waren beide Soldatinnen bei ihren Stürzen weder durch Haken noch Seile gesichert. „Es ist unpraktisch, sich beim Aufentern auf jeder Stufe einzuhaken“, erklärt Flottenkommando-Sprecher Uwe Rossmeisl. „Wenn Sie sich immer sichern, kommen Sie gar nicht vorwärts“, sagt der Fregattenkapitän.

Die 89 Meter lange „Gorch Fock“ mit dem goldenen Albatros am Bug gilt als Aushängeschild der Marine und dient zum einen der Tuchfühlung mit den Naturgewalten. „Als Seefahrer muss ich wissen, in welchem Element ich mich bewege“, sagt Rossmeisl. „An einer Konsole im Simulator kann ich das nur bedingt.“ Zudem schule die Arbeit auf einem Großsegler den für Seeleute besonders wichtigen Teamgeist: Einer muss sich auf den anderen verlassen können, damit die Dinge an Bord glattgehen. Überdies dient der Dreimaster repräsentativen Zwecken. Bei ihren Auslandsreisen ist die „Gorch Fock“ Deutschlands „diplomatischer Botschafter weltweit für Frieden, Freundschaft und Verständigung zwischen den Völkern“, heißt es auf der Homepage des Schiffes.

Nach dem jüngsten Todesfall hat die Marine die Ausbildung auf der „Gorch Fock“ bis September 2011 ausgesetzt. Die Offiziersanwärter, die sich mit Sarah Seele an Bord befanden, wurden inzwischen nach Deutschland geflogen und sollen ihre Ausbildung nun an der Marineschule in Mürwik und auf anderen Schiffen fortsetzen. Die „Gorch Fock“ segelt derweil auf der geplanten Route mit der Stammbesatzung weiter. Die Marine will an dem Schulschiff festhalten, angesichts des erneuten Unglücks aber ihr Ausbildungskonzept überarbeiten. Was dies konkret zur Folge hätte, ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar. Im Verteidigungsministerium soll es nach Informationen des Tagesspiegels Überlegungen geben, die Ausbildung auf der „Gorch Fock“ teilweise oder ganz einzusparen. Die Strukturkommission der Bundeswehr unter der Führung von Arbeitsagenturchef Frank-Jürgen Weise hatte sich in ihrer Empfehlung zur anstehenden Streitkräftereform dagegen für den Erhalt des Großseglers ausgesprochen. Der Verteidigungsausschuss des Bundestages will den Umständen des Todes von Sarah Seele in seiner Sitzung am kommenden Mittwoch auf den Grund gehen und über die Zukunft der „Gorch Fock“ diskutieren.

Aus dem Unfall von Offiziersanwärterin Jenny Böken 2008 hatte die Marine Konsequenzen gezogen und das Segelschulschiff mit zusätzlicher Sicherheitstechnik ausgestattet. So gibt es nun auf dem Dreimaster spezielle Suchscheinwerfer und Leuchtgranaten, mit denen die See bei Nacht nach über Bord gegangenen Soldaten abgesucht werden kann. Zudem sollen die Rettungswesten der Besatzung künftig über einen Sender verfügen, der bei Wasserkontakt Signale aussendet und geortet werden kann.

Für Marlis Böken, die Mutter der getöteten Soldatin, ist aber klar, dass selbst modernste Sicherheitstechnik die Gefahren an Bord der „Gorch Fock“ allenfalls minimieren kann. Sie hat nach dem Tod ihrer Tochter eine Stiftung gegründet, die den Hinterbliebenen von Bundeswehrsoldaten zur Seite steht. „Unfälle lassen sich nie vollständig vermeiden, aber mit einer entsprechenden Sicherung wäre Sarah Seele nicht aus dieser Höhe aufs Deck geschmettert“, sagt die 52-Jährige. Ihre Tochter Jenny sei sich der Gefahr beim Auf- und Abentern auf der „Gorch Fock“ stets bewusst gewesen. Obwohl Marlis Böken ihr Kind auf dem Segelschulschiff verloren hat, hält sie eine Ausbildung auf dem Großsegler für unerlässlich. Sie schlägt vor, den Kadetten an Bord künftig mehr Zeit zu geben, sich an das Schiff und seine Anforderungen zu gewöhnen: „Für die Auszubildenden müssen andere Kriterien angelegt werden als für die erfahrenen Seebären.“

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