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DIE GESELLSCHAFT: Ein Anwalt für jedes Kind Über die Grenzen herrscht Verunsicherung

Das Verhältnis von Eltern und Kindern hat in den vergangenen Jahrzehnten eine ähnliche kulturelle Revolution erlebt wie das zwischen Männern und Frauen – offenbar hat es sich zum Guten entwickelt. Empathie und Verantwortung sind typisch für die Haltung der meisten Mütter und Väter zu ihren Kindern.

Das Verhältnis von Eltern und Kindern hat in den vergangenen Jahrzehnten eine ähnliche kulturelle Revolution erlebt wie das zwischen Männern und Frauen – offenbar hat es sich zum Guten entwickelt. Empathie und Verantwortung sind typisch für die Haltung der meisten Mütter und Väter zu ihren Kindern. Junge Erwachsene sehen in ihren Eltern ihre wichtigsten Vertrauenspersonen, die Gewalt in der Erziehung ist zurückgegangen. Kinder brauchen Geduld und Zeit, Lob ist besser als Strafe, klare Regeln helfen, Vorlesen ist besser als Fernsehen – so wird in traditionellen bürgerlichen Familien, im liberalen Mittelschichtenmilieus oder bei den sogenannten kleinen Leuten gedacht. Die Liste der gemeinsamen Erziehungspostulate ist länger, als der gelegentlich aufflackernde Streit um das Erbe der „68er“ vermuten lässt.

Und doch ist Erziehen schwieriger geworden. Weil fast alle Kinder Wunschkinder sind, weil aufgrund der demografischen Entwicklung viele Menschen sehr kinderfrei leben, erzieht die Gesellschaft zwar mit wie eh und je. Aber über ihre Verantwortung und deren Grenzen herrscht Verunsicherung. Familie, früher in höchster Selbstverständlichkeit die „Keimzelle“ von Staat und Gesellschaft, ist unübersichtlich geworden. Kinder hatten alle, man musste nicht viel für sie tun. Heute ist sie traditionell, ehelich, nicht ehelich, Ein-Eltern- oder Patchworkfamilie, da hat der Staat sich herauszuhalten. Kinder gelten als Privatsache. Das paradoxe Ergebnis ist: Im deutschen Versorgungsstaat ist die Eigenverantwortung nirgendwo so ausgeprägt wie bei ihren schwächsten Mitgliedern. Kinder brauchen starke Eltern – wer die aber nicht hat, kann sich manchmal auf niemanden verlassen.

Das Grundgesetz gibt ein anderes Versprechen. Artikel 6 stellt die „staatliche Gemeinschaft“ an die Seite der Kinder; sie soll wachen über die Betätigung der Eltern, deren „natürliches Recht und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ die Erziehung der Kinder ist. Im Schatten der ungelösten sozialen und unbearbeiteten Migrationsprobleme wachsen viele Kinder auf, die diese staatliche Gemeinschaft brauchen, am besten nicht als staatliches Kontra, sondern als Unterstützung von Eltern und Kindern.

Aber auch in intakten Verhältnissen geraten die besten Grundsätze oft in Bedrängnis. Eltern, Lehrer und Erzieher stehen unter dem Druck von Überforderungen, klagen übereinander und werden vom schlechten Gewissen begleitet. Denn die guten Erziehungsvorsätze scheitern oft genug am Zeit- und Mobilitätsdruck. Die industrielle Revolution hat die Großfamilie zerstört; wie sich die Kleinfamilie in der beschleunigten Welt von heute behauptet, ist eine ernsthafte Frage.

Womöglich gelingt es der Familie, die Gesellschaft zu erziehen. Für das flexible Individuum zählt das Hier und Jetzt, dem es sich ständig anpassen muss. Wir beklagen Ellenbogenmentalität und Egoismus. Dabei wollen die meisten Menschen gar nicht so leben. Und doch bestimmt die Arbeits- und Wirtschaftswelt den Takt für alle. Fast ist es, als hätten wir keine Zeit mehr, um über gestern und heute nachzudenken. Wir werden mitgerissen und getrieben von einer Beschleunigung, die kein Innehalten zulässt. Doch „Erziehung“, das Leben mit Kindern ist kaum vorstellbar, ohne sich selbst und die Nachkommen einzuordnen in einen Kontext, der weiter und größer ist als das einzelne Individuum. Kinder sind die Sehnsucht nach dem Besseren, das möglich ist. Nicht nur für Eltern und Großeltern. Wo der Ehrgeiz der Gesellschaft schwach wird, wenn sie nicht mehr alle Kinder als „ihre“ Kinder wahrnimmt, verliert sie ihre Zukunft. Tissy Bruns

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