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Kampf gegen den IS: Die Kurden in der Türkei rebellieren

Die Türken zögern, in Kobane einzugreifen. Die Kurden sind empört und rebellieren. Destabilisiert der IS-Terror das Land? Unterdessen gehen die Kämpfe in Kobane unvermindert weiter.

Mindestens 19 Tote, brennende Fahrzeuge und Gebäude, geplünderte Geschäfte, Panzer auf den Straßen – geschockt blickte die Öffentlichkeit in der Türkei am Mittwoch auf die schlimmen Folgen der Proteste von Kurden gegen die Syrien-Politik der Regierung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Mit den Unruhen wächst der Druck auf die Regierung, den kurdischen Verteidigern der nordsyrischen Kurdenstadt Kobane gegen den Angriff des „Islamischen Staates“ (IS) zu helfen. Der türkisch-kurdische Friedensprozess, das wichtigste politische Projekt des Landes seit Jahrzehnten, ist in Gefahr.

Warum waren die Proteste so gewalttätig?

Die Zahl der Todesopfer nach den Unruhen ist sehr hoch. Allein zehn Tote gab es in der Großstadt Diyarbakir zu beklagen, der inoffiziellen Kurdenhauptstadt der Türkei. Wie Agrarminister Mehdi Eker, der aus Diyarbakir stammt, mitteilte, starben die meisten Opfer an Schussverletzungen. In der Stadt hatten sich nicht nur Demonstranten und die Polizei bekämpft, sondern auch Kurden und Anhänger der türkischen radikal-islamischen Hisbollah. Der türkisch-kurdische Parlamentsabgeordnete Ertugrul Kürkcü warf Davutoglus Regierungspartei AKP vor, die Hisbollah und die ebenfalls islamistische Hüda-Partei als „ihren eigenen IS“ zu benutzen, um gegen Andersdenkende vorzugehen. Aus einigen kurdischen Städten wurde berichtet, Anhänger der Hüda-Partei hätten das Feuer auf kurdische Demonstranten eröffnet.

Allerdings kamen nicht nur Kurden ums Leben. Fünf der zehn Todesopfer in Diyarbakir sollen Hisbollah-Anhänger gewesen sein. Die Hüda-Partei erklärte, sechs ihrer Mitglieder seien bei den Unruhen ums Leben gekommen. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Türkei zu neuer Gewalt zwischen militanten Islamisten und Kurden kommt.

Was löste die Unruhen aus?

Die Belagerung von Kobane ist für die rund zwölf Millionen Kurden in der Türkei zu einem Symbol für Freiheit und Widerstand geworden. Kurdische Politiker verurteilen die Weigerung der türkischen Regierung, den Kurden von Kobane zu helfen. Davutoglu hatte eine solche Hilfe vergangene Woche zwar versprochen, doch geschehen ist bisher nichts.

Die syrischen Kurden in Kobane und in zwei anderen Gebieten Nordsyriens hatten sich Anfang des Jahres für autonom erklärt. Die türkische Regierung hat das mit Sorge zur Kenntnis genommen. Sie fürchtet Folgen für das türkische Kurdengebiet; die nordsyrische Kurdenpartei PYD ist ein Ableger der türkisch-kurdischen Rebellengruppe PKK, die trotz der seit 2012 laufenden Friedensverhandlungen immer noch als Terrorgruppe gilt.

Wie reagiert die Türkei?

Nach den Unruhen vom Dienstag wurden in einem halben Dutzend Provinzen Ausgangssperren erlassen. Es gab Berichte über Plünderungen von Geschäften. In einigen Städten patrouillierten Soldaten und Panzer – Szenen, die an das Kriegsrecht in den schlimmsten Tagen des Kurdenkonflikts erinnerten. Agrarminister Eker sagte, je nach Entwicklung könnten die Ausgangssperren um eine weitere Nacht verlängert werden. In Diyarbakir gab es am Mittwochnachmittag neue Zusammenstöße zwischen Kurden und Sicherheitskräften; Regierungs- und Parteigebäude wurden beschädigt.

Was sind die politischen Folgen?

Der kurdische Politiker Kürkcü sagte, das Verhalten der türkischen Regierung angesichts der Belagerung von Kobane bringe die Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK in große Gefahr. Der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan hat der türkischen Regierung in Ankara nun ein Ultimatum bis zum 15. Oktober gestellt, um die Friedensverhandlungen zu retten. Bis dahin müsse es „konkrete Schritte“ der Regierung geben, sagte Kürkcü.

Wird Erdogan einlenken?

Die Türkei hat nun erstmals medizinische Hilfsgüter nach Kobane geschickt, wie PYD-Chef Salih Müslim sagte. Noch keine Entscheidung gibt es hinsichtlich einer anderen Forderung des syrischen Kurdenpolitikers: Müslim hatte die türkische Führung um die Erlaubnis gebeten, bewaffnete Kurdenkämpfer aus zwei anderen Kurdengebieten in Syrien über türkisches Territorium nach Kobane bringen zu dürfen. Ein solcher Transfer würde den kurdischen Verteidigern von Kobane erheblich helfen.

Wie ist die Lage in Kobane?

In der umkämpften nordsyrischen Stadt gingen auch am Mittwoch die Kämpfe zwischen den Kurden und den Angreifern des IS weiter. Verwundete kurdische Kämpfer wurden aus Kobane in türkische Krankenhäuser gebracht. „Die Situation ist schlechter, als die Menschen denken“, sagte ein Kämpfer der Nachrichtenagentur dpa. „Viele sind ernsthaft verletzt ... Es war nicht möglich, sie rauszubringen.“

Von kurdischer Seite hieß es zunächst, der Vormarsch des IS sei gestoppt. Die erheblich intensivierten Luftangriffe zwingen die Kämpfer des IS immer wieder, Angriffe abzubrechen. Zudem wurden bei den Bombardierungen Panzer der Belagerer zerstört. Kürkcü sagte, die Kurden in Kobane hätten direkten Kontakt zu den Verbündeten und könnten deshalb die Luftangriffe auf die IS-Stellungen präzise lenken.

Dass die US-geführten Alliierten den Kurden helfen, während die türkische Regierung nach wie vor passiv bleibe, sei eine Blamage für die Politiker in Ankara, sagte Kürkcü. „Die sollten sich was schämen.“

Am Nachmittag dann ging die IS-Miliz zur Gegenoffensive über. Sie versuchte offenbar den Bezirk Kani Araban unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Kampf um Kobane geht weiter.

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