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Politik: Die Macht der Gefühle

Von Stephan-Andreas Casdorff

Glauben wir fest daran. Gerade jetzt, zu Weihnachten. Glauben wir daran, dass wir uns und die Zusammenhänge, in denen wir leben, zum Besseren ändern können. Wir, die wir von dieser Welt sind. Fragen wir uns nur: wie. Wie am besten?

Vielleicht, indem wir auch etwas wieder entdecken, heute, das in einer Welt der Logiken und Wissenschaften und Ökonomismen allmählich abhanden zu kommen scheint. Es ist die „Macht der geteilten Gefühle“, die des gemeinsamen Gefühls. Von dem hat der Gesellschaftswissenschaftler Karl-Otto Hondrich geschrieben, als es in diesem Jahr um die Divisionen des Papstes ging: die Tausenden, die den toten Johannes Paul II. ehren wollten. Er schrieb darüber, denn vom Einklang der Gefühle geht „ein ewiger Zauber aus: der Zauber der Einheit“.

Wollen wir uns einem Gemeinwesen verbunden fühlen, dann muss es doch wohl etwas geben, das tief im Menschen angesiedelt ist, dort, wo auch der Glaube seinen Platz hat. Nicht alles gehorcht der Logik. Gefühl zu entwickeln, sei es im Sinne des hergebrachten christlichen Glaubens oder des Glaubens an Humanität, an Recht, an Vernunft – das ist in einer Gesellschaft wie der unseren, so modern und plural, unverzichtbar.

Die Macht der Gefühle ist eine, die im besten Sinne wirken kann, identitätsstiftend für viele Menschen. Der Aufruf zur „Wiedergeburt Europas“, verfasst von zwei Philosophen vor zwei Jahren, Jacques Derrida und Jürgen Habermas, geht von eben jener Notwendigkeit aus: weil sie Europa verbinde. Und warum soll das nicht das Gefühl sein, dass es etwas gibt, das größer ist als wir, eine Autorität, die wir nicht bestimmen, sondern zu respektieren haben; eine Autorität, die dem Einzelnen sagt, dass es nicht nur um ihn, sondern immer auch um die anderen geht. Der Christdemokrat Wolfgang Schäuble, übrigens, argumentiert so.

Auf das rechte Maß kommt es an, auf die Grenzen, die man für sich als Mensch anerkennt, im Sinne der Menschlichkeit, im Großen wie im Kleinen. Denn das Wort schon sagt: Menschlichkeit setzt das Aufeinander-bezogen-Sein voraus. Der Mensch ist auf den Menschen angewiesen, Generation auf Generation.

Wenn das alles nicht für ein Gemeinwesen auch praktisch politisch ist. Das Gefühl fürs rechte Maß zu suchen, ist gerade jetzt wichtig, wo die grundlegende Veränderung fortfahren soll, um das Bewährte zu bewahren: die offene Gesellschaft. Sie muss – nach dem Ende der vorangegangenen Selbstinszenierungen aller Art – in kleinen Schritten, die Balance sichernd, weiter ihre sozialen Einrichtungen umbauen. Die ihr menschliches Gesicht wahren. Kein Katastrophismus mehr soll den Umbau bestimmen, keine Revolution, die nach ihrem Wesen gefühllos ist, sondern ein beharrliches Tasten auf dem Weg voran. Um es so auszudrücken: Reformen, ja, aber noch einmal mit Gefühl.

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Das sind die Fragen der Vernunft, sowohl der praktischen wie der spekulativen. Wo das Spekulative ist, braucht es auch: Intuition, Gefühl. Die Fragen gemeinsam mit anderen Menschen zu beantworten, gehört zum Gemeinwesen, entwickelt es im besten Fall fort. Und ist außerdem ein Sinn des Festes, das wir heute feiern: eines im Zauber vielleicht nicht immer vollendeter familiärer Eintracht, aber der Einheit der Gefühle. Heute beginnt das Fest der Hoffnung für alle, die guten Glaubens sind.

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