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Politik: Die Meisterprüfung

"When the saints go marching in", spielt die Kapelle, und der Star der SPD-Wahlparty wiegt sich mit seinen roten Gratulationsblumen im Takt. Der Siegesrausch hält sich in Grenzen, denn es ist schwer, aus dem Erfolg eine stabile Koalition zu zaubern.

"When the saints go marching in", spielt die Kapelle, und der Star der SPD-Wahlparty wiegt sich mit seinen roten Gratulationsblumen im Takt. Der Siegesrausch hält sich in Grenzen, denn es ist schwer, aus dem Erfolg eine stabile Koalition zu zaubern. Aber der Kanzler hat gratuliert, an diesem Abend lässt sich Klaus Wowereit den Sieg "nicht kaputt reden". In den Jubel der Genossen mischt sich Schadenfreude über den Sturz der CDU, Enttäuschung, dass es für Rot-Grün nicht reicht und - dass die PDS so stark ist.

Zum Thema Ergebnisse I: Stimmenanteile und Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus Ergebnisse II: Direktmandate im Abgeordnetenhaus Ergebnisse III: Ergebnisse nach Regionen (Abgeordnetenhaus und BVV) WahlStreet.de: Die Bilanz Am Vormittag dieses Sonntags weiß Klaus Wowereit, warum er den Tag nicht vor dem Abend lobt. "Ich bin mir sicher, dass die harte Arbeit weitergeht", sagt er vor dem Wahllokal. Damit trifft er ins Schwarze, obwohl es gerade erst elf Uhr ist. Er hat mit Freunden ein bisschen in den Wahltag hineingefeiert, ausgeschlafen und gut gefrühstückt. 30 Prozent plus X hat er sich gewünscht. Damit ist es nichts geworden. Die Wahlforscher hatten der SPD ja ein Traumergebnis bis zu 35 Prozent vorausgesagt. Sie haben den Mund zu voll genommen, und Wowereit scheint das geahnt zu haben. "Man darf nicht vergessen, dass wir von 22,4 Prozent vor zwei Jahren herkommen", pflegte er sicherheitshalber stets zu sagen, um vorzeitige Siegesräusche der SPD zu dämpfen: "Sonst stehen wir noch als Verlierer da, wenn das Wahlergebnis unter den Umfragen liegt." Aber auch nach den ersten Hochrechnungen weiß er noch nicht, ob er seines Sieges froh werden kann. Da es für das rot-grüne Wunschziel nicht reicht, wird die Koalitionsfrage kompliziert.

Riesenandrang

Im stillen Ortsteil Lichtenrade am Südwestrand Berlins mit seinen unauffälligen Einfamilienhäusern, wo Klaus Wowereit herkommt, sind an diesem Sonntagvormittag auffallend viele Leute unterwegs. Vermutlich liegt es daran, dass gleich vier Wahllokale in der Bruno-H.-Bürgel-Grundschule untergebracht sind. In dieser Schule hat auch Klaus Wowereit Lesen und Schreiben gelernt. Ein riesiges Presseaufgebot erwartet den prominentesten Wähler, Vertreter des Fördervereins der Schule, dem er angehört, sind auch da. Wowereit plaudert erst einmal wie der Nachbar von nebenan, drei Sicherheitsbeamte sind immer um ihn herum, zwei beobachten im Hintergrund das Terrain.

Wowereit macht seine drei Kreuze, ganz oben steht sein Name auf der Bezirksliste Schöneberg-Tempelhof für das Abgeordnetenhaus. Nur als Direktkandidat kann er sich nicht selbst wählen; sein Wahlkreis liegt neben seinem Wohnkiez. Den holte vor zwei Jahren Nikolas Zimmer von der CDU mit haushoher Mehrheit, Wowereit kam erst unter "ferner liefen". Da war er noch kein bekannter Politiker. "Diesmal wird es knapper", sagt er. Hat Zimmer auch schon gesagt.

Belustigt hört Wowereit die Zurufe der Fotografen im Gewusel vor der Wahlurne und wartet mit dem Einwerfen des Stimmzettels, bis alle Kameras schussbereit sind. "Den Hintergrund mal frei machen!" - "langsam, Herr Wowereit!" - "Nu rin mit dem Ding!" Zu Befehl: "So, ich lasse die Sache jetzt fallen", sagt Herr Wowereit. Erledigt. Draußen gibt er noch ein paar Autogramme. Mitten im Gewühl klingelt das Handy. Kultursenatorin Adrienne Goehler will "Toi-toi-toi!" sagen. Er erfährt, dass sie heute rot-grüne Ohrgehänge trägt, natürlich. Wowereit verabschiedet sich zur letzten Ablenkung gegen die Nervosität vor dem spannenden Abend. Er will noch zum familiären Kaffeeklatsch. Der Abend und die nächsten Wochen werden anstrengend genug.

Im Preußischen Landtag, dem Sitz des Landesparlaments, beginnt das Wahlparty-Gewühl schon eine Stunde vor Schließung der Wahllokale. Kein Spitzenkandidat lässt sich blicken. Auch Wowereit hat sich mit den Seinen im Fraktionsbüro verbarrikadiert. Bloß jetzt keine Presse, wo man wirklich kribbelig ist und die ersten Erklärungen für jeden Eventualfall bespricht.

Dann kommt die Prognose, und die SPD weiß nun: Sie hat gewonnen, und dennoch ist dieser Sieg kein Triumph. Die Wowereit-Runde bei SPD-Fraktionschef Michael Müller lässt keine Sektkorken knallen. Parteichef Peter Strieder lässt sich als erster blicken. "Wunderbar", strahlt er. Aber die Genossen zerbrechen sich schon den Kopf über die nun anstehenden Sondierungen mit den Grünen, der FDP und auch der PDS, bevor an Koalitionsverhandlungen zu denken ist. Manche sehen die Ampel blinken, andere beißen sich auf die Lippen.

Aber wo ist Klaus Wowereit? Er hat sich davon gemacht zur Siegesfeier seiner Partei im Daimler-Chrysler-Forum am Potsdamer Platz. Er weiß, was sich gehört, die Danksagung ist wechselseitig. Auch in diesem Moment pflegt Klaus Wowereit jede Sekunde das Gemeinschaftsgefühl; die Partei soll ihm ja auch in Zukunft nicht in die Quere kommen. Kein Wort von Rot-Rot oder Ampel. Später erst taucht er im Abgeordnetenhaus wieder auf.

Der Jurist Klaus Wowereit ist in atemberaubender Schnelligkeit zum politischen Gipfel gestürmt. Erst 1995 zog er ins Berliner Abgeordnetenhaus ein, nach elf Jahren als Stadtrat in seinem Wohnbezirk Tempelhof. Sofort machte er sich einen Namen als Haushaltsexperte und Verfechter eines strengen Konsolidierungskurses. Das war damals eine Neuigkeit. Ende 1999 stieg er zum Fraktionschef auf und wickelte die ewig zerstrittene SPD-Fraktion im Nu um den Finger. Vor gerade vier Monaten schaffte er mit Tabubrüchen, die man nie für möglich hielt, den großen Sprung. Er ließ die Große Koalition mit Hilfe der PDS platzen und offenbarte seine Homosexualität, ehe er mit seinem rot-grünen Minderheitssenat für Neuwahlen antrat.

Bisher war er nur ein "regierender Zwischenmeister". Jetzt erst muss er zeigen, ob er wirklich die Statur für den Regierenden Bürgermeister hat.

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