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Die Organisation Pro Familia veröffentliche in den 80er Jahren Positionen, die Sex zwischen Erwachsenen und Kindern rechtfertigen.

© dpa

Debatte um Pädophilie: Die Probleme von Pro Familia mit der Distanz

Einen fragwürdigen Umgang in der Vergangenheit mit dem Thema Pädophilie müssen sich nicht nur die Grünen vorhalten lassen. Auch die Beratungsorganisation Pro Familia veröffentlichte dazu zweifelhafte Artikel. Worum ging es dabei?

Seit Mai 2013 untersucht das Institut für Demokratieforschung in Göttingen den Einfluss pädophiler Strömungen auf die Grünen in den 80er Jahren. Den Auftrag zu der Untersuchung hatte die Partei selbst gegeben, nachdem einzelne Politiker wie Volker Beck oder Daniel Cohn-Bendit wegen Äußerungen in der Vergangenheit immer wieder in die Kritik geraten waren. Die Göttinger Wissenschaftler unter Leitung von Professor Franz Walter stießen bei ihren Recherchen nicht nur auf Fundstücke bei den Grünen, sondern auch beim damaligen Jugendverband der FDP, den Jungdemokraten. Pädophilenfreundliche Schriften wurden auch beim Kinderschutzbund veröffentlicht. Der Gedanke, dass es einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen und Kindern geben könne, sei in den 70er Jahren Bestandteil einer „linksliberalen Intellektualität“ geworden, analysiert der Politikwissenschaftler Walter.

Tagesspiegel-Recherchen ergaben, dass in den 80er und 90er Jahren auch im Verbandsmagazin von „Pro Familia“ pädophilenfreundliche Ansichten verbreitet wurden. Pro Familia ist nach eigener Darstellung mit 180 Beratungsstellen „der führende Verband zu Sexualität, Partnerschaft und Familienplanung in Deutschland und betreibt flächendeckend das größte Beratungsnetz in der Bundesrepublik.

Worum ging es in den Beiträgen des Verbandsmagazins von Pro Familia?

In ihrem Verbandsmagazin hat die Organisation in den 80er und 90er Jahren pädophilenfreundliche Ansichten verbreitet. Beiträge, die Sex mit Kindern gutheißen oder rechtfertigen, finden sich nach Recherchen des Tagesspiegels in mehreren Ausgaben des „Pro Familia Magazins“. So plädierte etwa der Psychologe und Pädagoge Wolf Vogel 1987 dafür, „vorurteilsfrei“ über die Ursachen pädophiler Lust nachzudenken. Aber auch ein Jahrzehnt später fanden solche Positionen noch Platz in der Zeitschrift: Der Soziologe Rüdiger Lautmann beklagte sich 1997 über den „Kreuzzug gegen die Pädophilie“.

Wen ließ das „Pro-Familia-Magazin“ beim Thema Pädophilie zu Wort kommen?

Mehrfach schrieb der Soziologe Rüdiger Lautmann, damals Professor an der Uni Bremen, Artikel für das Magazin. Lautmann war im April 1979 auf dem Kongress der deutschen Soziologen in Berlin maßgeblich an einem Antrag beteiligt, der forderte, den Paragrafen 176 aus dem Strafrecht zu streichen, der sexuelle Handlungen an Kindern unter 14 Jahren unter Strafe stellte. Im Jahr 1994 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel „Die Lust am Kind“, für das er pädophile Männer befragte. In der Ausgabe 3/95 des „Pro Familia Magazins“ legte er ausführlich dar, warum aus seiner Sicht eine Trennlinie zwischen Pädophilie und Kindesmissbrauch gezogen werden muss. „Unsere Untersuchung definiert den Begriff des Pädophilen, grenzt ihn gegen Inzest, Missbrauch und Sadismus ab. Und wir beweisen, dass es solche Männer gibt“, schrieb Lautmann. Pädophile, so definierte er, seien „Menschen, welche Kinder erotisch finden, Kinder auch lieben, eine Freundschaft mit einem Kind begründen, um darin dann auch sexuelle Erfüllung zu finden“. Der Begriff des Kindesmissbrauchs beinhalte, „dass der kleine Mensch geschädigt wird“, schrieb Lautmann weiter. Und kam zu dem Ergebnis: „Diese Schädigung ist bei den Kontakten der echten Pädophilen sehr fraglich.“ Denn diese gingen „außerordentlich vorsichtig“ vor, sie erlebten „viel weniger Sexualität als gemeinhin angenommen wird“. Die echten Pädophilen zielten gar nicht unmittelbar auf Sexualität, „sondern zunächst auf die erotische Beziehung zu dem Kind“.

Wie rechtfertigt Lautmann Sex zwischen Kindern und Erwachsenen?

Er habe den Eindruck, dass es „so etwas wie eine natürliche Willensübereinstimmung“ zwischen Erwachsenen und Kindern gebe, argumentierte Lautmann. Dies bedeute nicht, dass beide in dasselbe eingewilligt hätten, „wohl aber, dass das Kind den zurückgenommenen Formen des pädophilen Wünschens zugestimmt hat und dann mit sich einiges machen lässt, was ihm selber Spaß verschafft“. Zum Machtgefüge zwischen Kindern und Erwachsenen schrieb Lautmann: „Offensichtlich verfügen die Kinder auch über Mittel, den Mann auf Abstand zu halten und damit das Verhältnis auf gewisse Weise gleichgewichtig zu gestalten.“ Jeder der für die Untersuchung befragten Pädophilen fürchte, so der Soziologe, dass das Kind ausbleibe. Er zog daraus den Schluss: „Sie fiebern von einem zu anderen Mal. Sie haben also nicht wirklich Macht über das Kind.“

Ließ die Redaktion Distanz zu Lautmanns Thesen erkennen?

Die Redaktion des Magazins kommentierte im Vorwort zu Lautmanns Artikel wohlwollend, sein Buch sei das erste deutschsprachige Projekt, das die sozio-sexuelle Seite der Pädophilie empirisch erforsche. „Ein erneuter Versuch, sich dem heiß umstrittenen Thema Pädophilie wissenschaftlich zu nähern und die Trennlinie zum Kindesmissbrauch zu skizzieren“, heißt es dort. In der selben Ausgabe findet sich auch eine Buchbesprechung, in der der Wissenschaftler für seinen „Mut“ und die „Verantwortung des Sexualwissenschaftlers“ gelobt wird. Ihm sei beim Lesen deutlich geworden, schrieb der Rezensent, dass es zutreffend sei, Pädophilie als ein Phänomen zu bezeichnen, „das mit dem großen Hammer des Strafrechts nicht sinnvoll zu bearbeiten ist; er, der Hammer, hinterlässt nur Splitter und Trümmer nach allen Seiten“. Ein Jahr später druckte das Magazin einen kritischen Leserbrief zu Lautmanns Artikel (Ausgabe 2/96), in dem eine Mitarbeiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes in Bremen schrieb, dass aus ihrer Sicht eine noch so liebevoll gestaltete Zuwendung eine missbrauchende Beziehung nicht ausschließe. Aber auch Lautmann durfte seine Thesen erneut verteidigen: Kinder seien irgendwann durchaus selber in der Lage zu beurteilen, „was unwillkommene Anmache, was Missbrauch oder was bloß aufregend ist“.

Wer hat sich außerdem positiv zu Pädophilie geäußert?

Der Psychologe und Pädagoge Wolf Vogel beschrieb in der Ausgabe 5/87 das „Elend einer verbotenen Liebe“. Vogel arbeitete als freier Journalist, er war Gründungs- und Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität e.V. in Berlin (AHS). Der Verein setzt sich für sexuelle Selbstbestimmung ein und kämpfte Anfang der 80er Jahre für die Liberalisierung des Sexualstrafrechts. Außerdem waren in der AHS damals zahlreiche Mitglieder der Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (DSAP) vertreten. Diese gilt als politische Speerspitze der damaligen Pädophilenbewegung. Vogel klagte in seinem Aufsatz darüber, dass in den meisten pädophilen Beziehungen das Kind und der Erwachsene leiden müssten, „dass sie ihr Liebesverhältnis vor allen anderen Menschen, auch den sonstigen Bezugspersonen verschweigen müssen“. Das sei vor allem für das Kind sehr belastend. Erzähle es „im Überschwang der Gefühle“ den Eltern, „welch aufregendes sexuelles Erlebnis es mit einem Erwachsenen hatte“, bestehe die Gefahr, „dass die Eltern geradewegs zur Polizei laufen“. Vogel benutzte dabei ein Argumentationsmuster, das auch andere Wissenschaftler zu der Zeit verwendeten: Polizeiliche Verhöre könnten für ein Kind verstörend sein und Schuldgefühle auslösen – besonders dann, wenn es „Freude am sexuellen Kontakt“ hatte. Wie verstörend schon der vermeintlich einvernehmliche Sex an sich sein kann – dazu verlor Vogel damals kein Wort. In derselben Ausgabe lobte Vogel außerdem ein Buch des holländischen Soziologen Theo Sandfort mit dem Titel „Pädophile Erlebnisse“. In dem Buch dokumentiert Sandfort die sexuellen Erfahrungen von 25 Jungen zwischen zehn und 16 Jahren und 20 Männern. Die von Sandfort gefundenen Resultate wichen stark von der „gängigen Meinung“ ab, der Erwachsene würde in einer sexuellen Beziehung zu einem Minderjährigen „seine stärkere Position missbrauchen“, erläuterte Vogel und zog das Fazit: Eine „höchst lesenswerte Untersuchung“. Erschienen ist Sandforts Buch im Jahr 1986 im Gerd J. Holtzmeyer Verlag, der 13 Jahre lang das „Pro Familia Magazin“ verlegte. Gerd J. Holtzmeyer selbst gehörte bis 1995 auch der Redaktion der Vereinszeitung an. Auch der Jurist und Pro-Familia-Vertreter Norbert Lammertz ließ in seinem Aufsatz „Schutz der sexuellen Selbstbestimmung“ (4/1985) Sympathie für die Forderung erkennen, Paragraf 176 im Strafgesetzbuch zu lockern. Sexuelle Kontakte mit Kindern sollten nicht mehr strafbar sein, wenn sie im Einklang mit dem Willen des Kindes und gewaltfrei zustande kommen. <NO1>Das entspricht in etwa der Forderung, die sich 1980 im ersten Grundsatzprogramm der Grünen fand. Lammertz nannte in seinem Aufsatz außerdem das Stichwort vom „Verbrechen ohne Opfer“ – ein Begriff, den der Soziologe Lautmann geprägt hat. Lammertz war Vorstandsmitglied von Pro Familia Bonn – und wie Lautmann Mitglied der AHS.

Kamen auch Kritiker von Pädophilie im „Pro Familia Magazin“ zu Wort?

Alice Schwarzer, Feministin und Herausgeberin des Magazins „Emma“, sprach sich in Heft 5/1987 dezidiert gegen Pädophilie aus. Die Frauenrechtlerin argumentierte im Abdruck einer „Emma“-Kolumne, sie halte Pädophile nicht für „eine zu befreiende verkannte Minderheit, sondern für das willkommene Sprachrohr einer Männergesellschaft“, die es schon immer gut verstanden habe, ungleiche Beziehungen als gleich zu propagieren. Schwarzer spricht von „millionenfachen körperlichen und seelischen Verletzungen“, die viele Mädchen durch sexuellen Missbrauch erleiden müssten.

Wie stellt sich Pro Familia selbst zum Thema Pädophilie?

In allen Magazinen von Pro Familia sei die eindeutige Verurteilung des sexuellen Missbrauchs an keiner Stelle in Frage gestellt, heißt es in einer Stellungnahme der Organisation vom Montag. Und weiter: „Angesichts des jetzt bekannten Ausmaßes an sexuellem Missbrauch würde man heute die Rechte der Kinder viel stärker in den Blick nehmen.“ Pro Familia habe die gesamtgesellschaftliche Debatte um die Liberalisierung der Sexualität und um sexuelle Selbstbestimmung mit geführt. „Die kritisierten Beiträge sind vor allem aus dem Diskussionszusammenhang heraus zu verstehen“, heißt es in dem von der Verbandsvorsitzenden Daphne Hahn autorisierten Text. Der Bundesvorstand hat demnach im Juni 1998 Pädophilie als Machtmissbrauch bezeichnet. Der Verband habe sich seither „klar gegen sexuellen Missbrauch und sexuelle Gewalt gegen Kinder und damit auch gegen Pädophilie als Machtmissbrauch im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern“ positioniert. Diese Haltung wurde 2010 auch in den Eckpunkten der Arbeit von Pro Familia nochmals bestätigt.

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