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Schein und Sein. Diese Rechtsextremisten inszenieren sich bei einer Demonstration

© imago/Markus Heine

Die schleichende Gefahr: Wie Rechtspopulisten die Normalität verschieben

Rechtsextreme Positionen lassen sich leicht ausgrenzen. Was aber, wenn sie verschoben werden und Menschenfeindlichkeit auf einmal ganz normal wirkt? Ein Essay.

In der Regel wird das Extreme skandalisiert. Aktuell geschieht das aus offensichtlichen Gründen mit rechtsextremer Gewalt, Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime zum Beispiel. Warum aber wird Normalität nicht skandalisiert? Wahrscheinlich, weil sie Sicherheit verheißt und man sich in der Übereinstimmung mit dem Selbstverständlichen weiß. Kann man aber sicher sein, dass nicht in dieser Normalität gerade das Destruktive steckt?

Wurden nicht durch selektive Unaufmerksamkeiten zentrale soziale, politische oder moralische Normalitätsstandards sukzessive verschoben? Etwa zur Interpretation deutscher Geschichte, zur Beurteilung demokratischer Abläufe, zum Verhältnis gegenüber schwachen Gruppen in der Gesellschaft? Und geschah diese Verschiebung nicht, ohne dass sie – trotz Warnungen etwa aus dem wissenschaftlichen Bereich – ernst genommen wurden? Weil auch die medial verbreitete Aufmerksamkeit auf das Extreme ausgerichtet war und ist?

Die Selbstberuhigung durch das herrschende Normale als das Selbstverständliche und Eingelebte kann höchst selbsttäuschend und deshalb gefährlich sein. Das versteckt Destruktive ist dann schwerer zu entdecken als das offen liegende Extreme.

Nun werden wir zum Teil verstörte oder auch mutlose Zeitzeugen von Verschiebungsversuchen bisher gültiger Normalitätsstandards etwa auch durch die Dresdner Rede des Herrn Höcke, durch das Auftreten eines Dresdner Zivilrichters und die paradoxe „Internationale“ der rechtspopulistischen Nationalisten in Europa.

Das Bild ist gefährlich: Dort die mordende NSU - hier die intakte Gesellschaft

Die Frage ist also: Kann verschobene Normalität bedrohlich sein? Ist sie möglicherweise sogar gefährlicher als das Extreme, weil das ausgrenzbar ist? Dagegen lässt sich das Normale, also die von der Mehrheit oder zuwachsenden Gruppen eines Gemeinwesens geteilten Auffassungen nicht ausgrenzen. Dann müssen andere Taktiken ins Spiel gebracht werden. Dazu gehören etwa die Aufspaltungen durch schematische negative und positive Bewertungen gesellschaftlicher Zustände. Besonders deutlich wurde dies anlässlich der Aufdeckung der Morde des NSU.

Das von Teilen politischer und medialer Eliten geprägte Bild war schlicht, wirkungsvoll und höchst problematisch. Es wurde eine Dichotomie gezeichnet: Dort der mordende NSU und seine Gefolgschaft – hier die humane, intakte Gesellschaft. Dies sind Abschirmungen von Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung. Diese Einstellungen stellen aber eine zentrale Ausgangsgröße in einem Eskalationskontinuum dar. Das spannt sich von diesen individuellen Einstellungen über kollektive Mobilisierungen in rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien hin zu radikalisierten Milieus mit ihrer Gewalt gegen markierte Gruppen und bis zum Terror.

Deshalb muss auch immer wieder die in der Normalität eingelagerte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit thematisiert werden. Das heißt, dass Menschen durch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit wie Muslime, Flüchtlinge, Juden, Homosexuelle – und zwar unabhängig von ihrem tatsächlichen individuellen Verhalten – in den Fokus der Abwertung, Diskriminierung und Gewalt durch Teile der Mehrheitsbevölkerung geraten.

Es wird ein Normalitätspanzer geschaffen. Was als normal gilt, kann dann nicht mehr problematisiert werden

Nun gibt es in der Regel einen Drang zur Normalität, weil man zugehörig sein, nicht auffallen, sich sicher fühlen will. Und sei es zulasten jener Menschen oder Gruppen, die nicht in die vorherrschenden Normalitätsstandards passen. So wird auch ein Normalitätspanzer geschaffen, weil dann alles, was als normal gilt, durch Eliten, Medien und Alltagskommunikation am Arbeitsplatz oder in Vereinen nicht mehr problematisiert werden kann.

Hinzu kommt, dass zum Beispiel Distanzierung vom Extremen relativ einfach ist, weil sie schnell über moralische Attitüden erreicht werden kann, um auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Distanzierungen von gefährlichen Normalitäten sind ungleich schwieriger.

Nun gibt es keine allgemein akzeptierte Auffassung von Normalität – und doch ist das Reden davon allgegenwärtig, weil sie produziert wird.

Da wirken die Deutungs- und mithin Machtakteure in Talkshows, in vornehmen Clubs wie weniger vornehmen Vereinen, um die bisherigen Geltungsbereiche der normativen Grundvorstellungen in eine Auflösung von eingelebten Ordnungen des Zusammenlebens zuerst über den Sprachgebrauch zu erproben, anzustoßen und zu verschieben, um veränderte Normalitätsstandards zu etablieren.

Dies ist besonders brisant hinsichtlich zweier basaler Normen dieser Gesellschaft, die nicht verhandelbar sind – und doch immer wieder bedroht werden durch Normalitätsverschiebungen. Es ist erstens die Gleichwertigkeit und zweitens die psychische und physische Unversehrtheit von allen Menschen, die in einer Gesellschaft leben.

Diese Normalitätsverschiebungen verlaufen über verschiedene Mechanismen. Der generelle Mechanismus durch rechtspopulistische Akteure ist der aggressive Sprachstil, der immer neue Eskalations- und Provokationselemente enthalten muss, damit Medien aufgrund ihrer Marktlogik für die nötige Vervielfältigung sorgen.

Rechtspopulisten inszenieren sich als Widerstand und diskriminieren die Demokratie als "Kanzlerdiktatur"

Zu den spezifischen Mechanismen gehören Begriffsausgrabungen wie die Wiedereinführung historisch kontaminierter Begriffe und der Versuch von Entlastungs- oder Verharmlosungsversuchen des „Völkischen“ oder die Benennung der Flüchtlingspolitik als „Umvolkung“. Die angebliche empirische Evidenz in der Regierungspolitik wird mit der Wiederbelebung von nationalsozialistischem Vokabular verbunden.

Die historischen Anleihen enthalten auch die Ausbeutung des Widerstands gegen das Hitler-Regime durch Umdeutung in die eigene positive Kontinuität des „Widerstands“ gegen eine demokratisch legitimierte Regierung.

In diesen politischen Kontext ist auch die Verwendung von Begriffen des Totalitären („Kanzlerdiktatur“) einzureihen, um die eigenen totalitären Vorstellungen etwa von einer homogenen Gesellschaft gegen kulturell störende Gruppen wie Migranten und Flüchtlinge in Stellung zu bringen.

Gleichzeitig gibt es schon lange schleichende Verschiebungsprozesse von Einstellungen in verschiedenen Bevölkerungsteilen zu menschenfeindlicher Absicht gegenüber sozial schwachen Gruppen, wie die Ergebnisse unserer Langzeitstudie zwischen 2002 und 2011 zeigen. Die lange Zeit nur latent vorhandenen individuellen feindseligen Einstellungen „hinter den Gardinen“ sind durch Mobilisierungsexperten unter anderem von Pegida und AfD in öffentliche Manifestationen verwandelt worden. Diesen Mobilisierungsexperten ist es gelungen, die individuellen Ohnmachtsgefühle im Alltag in kollektive Machtfantasien in der Öffentlichkeit mitsamt ihrer Verbreitung zu verwandeln.

Begleitet wird dieser Prozess seit geraumer Zeit von der Ausbildung einer rohen Bürgerlichkeit mithilfe intellektueller Eliten, um einen Jargon der Verachtung salonfähig zu machen und so auch die bisherige Pufferwirkung höherer Bildung gegen eine Abwertung schwacher Gruppen aufzulösen. Das trägt nachhaltig dazu bei, dass die notwendige Differenzierung zwischen Gruppenzugehörigkeit und individuellem Verhalten aufgelöst wird. Stattdessen wird eine Homogenisierung (insbesondere gegenüber Muslimen) betont, um die Gruppengrenzen („Wir“ und „Die“) zu etablieren beziehungsweise zu verstärken, so dass sie konflikt- und gewaltanfällig werden.

Zum öffentlichen Verschiebungsrepertoire gehört auch das Nachlassen der „Schweigespirale“ (Noelle-Neumann), wonach diejenigen, die sich mit ihren gruppenbezogenen menschenfeindlichen Einstellungen in der Minderheit fühlen, dann in ihren öffentlichen Äußerungen eher zurückhaltender sind als jene, die sich mit ihren Einstellungen in der Mehrheit fühlen. Die Veränderung von Öffentlichkeit durch die (a)sozialen Netzwerke hat nun zu einer völlig veränderten Verschiebungswucht geführt. Diese dürfte mithilfe von Normalisierungsmaschinen, der sogenannten „Social Bots“, durch die massenweise standardisierte und inzwischen auch variabel produzierte Hasswellen versendet werden und gleichzeitig dahinter stehende Menschenmassen vortäuschen, eine weitere menschenfeindliche Dimension erreichen.

Die Opferrolle ist attraktiv und effektvoll

Um allen diesen Normalitätsverschiebungen eine moralische Komponente zu verleihen, wird noch die Opferrolle aktiviert. Die ist attraktiv und effektvoll, wenn es gelingt, sie in der breiten Öffentlichkeit und in den gefolgsamen Bevölkerungsteilen überzeugend darzustellen. Dadurch wird eine moralische Überlegenheit suggeriert, um bisher geltende moralische Standards im gleichwertigen Verhältnis unterschiedlicher Gruppen und deren individuell unterschiedlichen Verhaltensweisen aus dem Wege zu räumen. So ergeben sich Selbstermächtigungen der Aggression.

Für diese Prozesse bedarf es wirkungsvoller Verschiebungsakteure, die von intellektuellen Bestseller-Autoren bis zu den rechtspopulistischen Mobilisierungsexperten reichen, die vor allem seit 2011 in die Öffentlichkeit drängen.

Diese konnten auf ein schon lange existierendes rechtspopulistisches Potenzial in der Bevölkerung zurückgreifen. Bereits 2002 haben wir in unserer Langzeitstudie (2002–2011) zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit („Deutsche Zustände“) auf ein Potenzial von 20 Prozent hingewiesen. Zwischen 2009 und 2011 stieg das Gefühl der Einflusslosigkeit als eine Voraussetzung von Wut deutlich an. Ebenfalls stieg in diesem Zeitraum die Bereitschaft, an politischen Demonstrationen teilzunehmen, und auch die individuelle Gewaltbereitschaft. Dies alles entwickelte sich lange vor der Flüchtlingsbewegung.

Die schon genannte selektive Unaufmerksamkeit in großen Teilen der politischen und medialen Eliten hat dies nicht zur Kenntnis genommen.

Auch dadurch konnte sich eine Verschiebungsagenda mit fünf zentralen Themen ausbilden: Angst vor sozialer Desintegration, die Betonung wahrgenommener kultureller Überfremdung mitsamt der Betonung von Etablierten-Vorrechten, die politische Entfremdung als Demokratieentleerung sowie De-Nationalisierung von Politik („Brüssel“). Diese Themen wurden durch die Flüchtlingsbewegung insbesondere im Sommer 2015 und emotional ausbeutbare Signalereignisse („Köln“) zusammengebunden und entfalten dadurch ihre Verschiebungswucht.

Dabei ist für rechtspopulistische Bewegungen und Parteien zweierlei charakteristisch: Der emotionalisierte Politikstil ist wichtiger als Inhalte. Nicht die Suche nach Konsistenz in den Argumenten ist entscheidend – Inkonsistenz ist das Markenzeichen, so dass Themen und markierte Adressatengruppen von Abwertungen ständig gewechselt werden können. Die Konstante ist die gruppenbezogene Integrationsstrategie („Wir nehmen die Bürger ernst...“) und bezieht sich auf die deutsche, homogen gedachte Eigengruppe, die dann gegen andere Gruppen in Stellung gebracht wird mit dem Resultat der Desintegration einer multiethnischen Gesellschaft. Das jüngst bekannt gewordene Papier zur Wahlkampfstrategie der AfD unterstreicht das auf autoritär verachtende Weise.

Errungenschaften der Gesellschaft werden Schicht für Schicht abgetragen

Die Normalisierungsverschiebungen scheinen nun außer Kontrolle zu geraten. Durch die benannten Mechanismen und Akteursgruppen werden neue Normalitäten etwa von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erzeugt, die möglicherweise bald nicht mehr problematisiert werden können, weil sie unter anderem von der AfD auf den Weg gebracht und von anderen Parteien zum Teil aufgesogen werden. So schaffen sie einen undurchdringlichen Normalitätspanzer.

Dies hat eine prekäre Zivilität zur Folge. Der Normalitätsfirnis einer liberalen Gesellschaft ist nur noch dünner Aufstrich. Die in Jahrzehnten mühsam aufgetragenen Schichten um Schichten errungener Zivilität werden von politisch und publizistisch mächtiger werdenden Gruppen wieder abgetragen. Schicht für Schicht. Darin besteht das Destruktive in der Normalität – unter Begleitmusik von gesellschaftlicher Selbsttäuschung und Selbstbetrug als Normalitätspanzerung.

Die Legitimation für Eskalation kommt daher nicht nur von den Extremen. Es ist schlimmer: Sie kommt aus den als normal verstandenen – und sich im Verschiebungsprozess befindlichen – gesellschaftlichen Abläufen, durch die sie beeinflussenden relevanten Eliten und solche Gefolgschaft in der Bevölkerung, die von autoritären Versuchungen fasziniert ist oder ihnen klammheimlich schweigend zustimmt.

Dass es auch große Gegenbewegungen gibt, ist nur begrenzt beruhigend angesichts der fortschreitenden Verschiebungswucht, die auch von Trump ideologisch hautnah von Ferne weiter zum Galoppieren gebracht wird.

Der Autor hat das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld gegründet, war 17 Jahre dessen Direktor und arbeitet dort jetzt als Forschungsprofessor.

Wilhelm Heitmeyer

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