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Politik: Die Täuscher und die Getäuschten

LÜGT DIE POLITIK?

Von Hermann Rudolph

Der „Gegenstand dieses Untersuchungsausschusses ist ein Gemeinplatz. Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören." So liest man es bei Hannah Arendt, der berühmten politischen Philosophin. Na, nicht ganz: Als sie sich mit der Lüge in der Politik beschäftigte, vor mehr als dreißig Jahren, dachte niemand an einen Untersuchungsausschuss – so herrlich weit waren wir damals noch nicht. Vielleicht aber eher auf der Höhe des Themas: Die „Überlegungen“, die Hannah Arendt anstellte, machten deutlich, dass es sich um eine Geschichte handelt, „die durch Moralisieren oder Simplifizieren weder einfacher noch verständlicher wird".

Der Essay trägt übrigens den Titel: „Wahrheit und Politik". Und in der Tat geht es bei der Auseinandersetzung, die nun im Bundestag gelandet ist, gar nicht so sehr um das Lügen, das dem Ausschuss sogleich als ErkennungsMarke angehängt worden ist. Es geht darum, was denn in der Politik Wahrheit sein kann. Selbstverständlich gibt es da Fakten, an die man die hohe Messlatte anlegen kann – die Steigerungsrate, die bis auf die Stelle hinter dem Komma ausgerechnet ist, das Zitat, das das Archiv erbarmungslos bewahrt, die Entscheidung.

Aber zum guten Teil besteht sie aus Meinungen, Perspektiven, Positionen – flüchtige Ware, die so und so gebraucht, vertreten, verstanden werden kann, erst recht im Kampf um Stimmen und Stimmungen, der das Lebenselement der Politik ist. Dem drohenden Abschwung hält sie den Glauben an den Aufschwung entgegen, gegebenenfalls bewehrt mit Expertensprüchen. Die Umfrage-Einbrüche, die die Furcht vor höheren Steuern nach sich zieht, pariert sie mit der Versicherung, die Steuern blieben stabil – bis sich herausstellt, dass gegen Adam Riese auf die Dauer keine Politik zu machen ist.

Hat sie gelogen? Oder nur gehofft, getäuscht, verdrängt? Die Pilatus-Frage – was ist Wahrheit? – trifft haarscharf an der Sache vorbei. Politik hat es mit Interessen zu tun, mit Aufgaben, mit der Macht, schließlich, nicht zu knapp, mit Gefühlen, mit Erwartungen und Enttäuschungen. Und wieweit ist sie überhaupt Herr der Prozesse, mit denen sie hantiert? Hin- und hergeworfen in dem stürmisch bewegten Meinungs- und Stimmungsfeld, das wir Öffentlichkeit nennen, hält sie sich fest an Annahmen und Tendenzen – oft wider bessere Ahnungen und Prognosen. Zumindest zur Hälfte lebt Politik von taktisch-strategischen Wolkenschiebereien, die die politische Landschaft in ein besseres Licht rücken sollen. Zu messen ist sie am Ende daran, ob sie die Dinge voranbringt, ob sie Lösungen findet, ob sie – in aller Allgemeinheit gesagt – das Richtige tut oder wenigstens anstrebt.

Und wollen wir, die Bürger, denn die Wahrheit? Wir wollen weniger Steuern und eine florierende Wirtschaft und Sicherheit im Inneren und nach außen und irgendwie auch das schöne Gefühl, dass die Dinge im Lot seien. Natürlich ist die Behauptung übertrieben, die Bürger wollten getäuscht werden. Aber der Bote, der die schlechte Nachricht bringt, läuft noch immer Gefahr, dafür bestraft zu werden. Politiker, so hat Theo Waigel, ein alter Fuhrmann der Politik, formuliert, „reden zu wenig von den Grenzen der Politik. Auf der anderen Seite erwartet das Publikum, dass sie alles bewegen können. In diesem Dilemma entsteht der Vorwurf, dass gelogen wird."

Der Ausschuss begibt sich auf ein unsicheres, hoch gefährliches Terrain. Es gibt gewiss Beispiele dafür, dass die Politik ihr Unschärferelations-Konto überzieht – Ludwig Erhards Wahlgeschenke 1965, die nach der Wahl kassiert werden mussten, der „Rentenbetrug" 1976, der den Sozialminister aus dem Amt riss. Man muss auch darauf bestehen, dass Politik sich um Wahrhaftigkeit bemüht. Aber was heißt das in einer Mediendemokratie, in der sich Politik weitgehend in ihrer Performance auflöst? Was ist da Lüge, was Wahrheit? Die Pilatus-Frage verhakt sich in einer Endlos-Schleife. Selbsttäuschung ist in der Politik die gefährlichste Form des Lügens, schrieb Hannah Arendt.

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