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Interview mit Rainer Brüderle: "Die totale Überwachung der Bürger ist mit uns nicht zu machen"

FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle über Lehren aus dem Rechtsterrorismus, Winfried Kretschmann und seine Sicht auf den Mitgliederentscheid der Partei zum Eurokurs der Koalition.

Von
  • Antje Sirleschtov
  • Hans Monath

Herr Brüderle, läuft Ihnen bei der Rettung des Euro die Zeit davon?

Wir sind in einer schwierigen Phase, aber es besteht kein Grund zur Dramatik. Wir haben in Europa mit dem Euro erst die gemeinsame Währung geschaffen und sind nun dabei, adäquate politische Strukturen aufzubauen. Wir hatten im Stabilitäts- und Wachstumspakt einen Ansatz von Instrumenten, aber dieser Pakt ist gesprengt, weil nie ein Verstoß sanktioniert wurde. Jetzt brauchen wir etwas Neues, den Stabilitätspakt II mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Auf diesem Weg sind wir.

Die Bundesregierung will nun zwar schnell die Europäischen Verträge ändern. Aber es könnte sein, dass Europa zerfallen ist, wenn Sie die grundlegenden Probleme gelöst haben.

Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Die Ursachen der Krise sind wirtschaftliche. Es gibt zum Teil erhebliche Ungleichgewichte bei Strukturreformen und Anpassungsprozessen, in der Wettbewerbsfähigkeit. Wenn wir die Ursachen bekämpfen, schaffen wir auch Vertrauen an den Märkten. Wir müssen überzeugend zeigen, dass wir langfristig den richtigen Weg einschlagen. Wenn wir das nicht machen, hilft auch kurzfristiges Liquiditätsmanagement nicht.

Das eine tun, das andere nicht lassen. Europas Regierungen, die Zentralbank und die Kommission könnten eine Patronatserklärung abgeben – nach dem Muster der Zentralbanken, die gerade den Märkten gezeigt haben, dass sie keine Liquiditätskrise zulassen. War das nicht richtig?

Eine Patronatserklärung abzugeben heißt, den hart arbeitenden deutschen Steuerzahler haftbar zu machen für alles, was in Europa schiefläuft. Dafür bekommen Sie in unserer Demokratie keine Mehrheit. Es ist grundverkehrt und hätte allenfalls einen kurzfristigen Effekt.

Die Bundeskanzlerin steht im Zentrum der Euro-Rettung. Macht Angela Merkel ihre Sache gut?

Ich finde ja. Es war ein deutliches Signal, als Angela Merkel und Nicolas Sarkozy auf dem Gipfel in Cannes dem griechischen Ministerpräsidenten, der plötzlich eine Volksabstimmung ankündigte, sagten: Entweder Sie bleiben bei unserer Vereinbarung oder Sie müssen einen anderen Weg gehen. Das muss man im Notfall auch machen.

Warum sollen sich Länder wie Italien oder Spanien künftig die Hoheit über ihre Haushalte von Deutschland abnehmen lassen?

Das sollen sie nicht. Sie sollen besser die notwendigen Reformen entschlossen durchführen. Solidarität heißt nicht nur, den anderen zu helfen. Solidarität heißt auch, dass der Empfänger von Hilfe alles ihm Mögliche tut, die Ursache seiner Misere abzuwenden. Eines müssen wir verhindern: Der deutsche Staatshaushalt darf nicht zum Selbstbedienungsladen für andere Länder werden.

Die von den Märkten bedrängten Länder leiden unter hohen Zinsen, die das Sparen schwieriger machen. Warum wehren Sie sich dagegen, denen, die sich zu einem Reformkurs verpflichten, mit niedrigeren Zinsen für Eurobonds zu helfen?

Die Länder in Südeuropa haben vor der Einführung des Euro wesentlich höhere Zinsen gezahlt. Sie haben aber die Phase der durch den Euro ermöglichten niedrigeren Zinsen nicht genutzt, um sich zu modernisieren, die Infrastruktur auszubauen, Forschung und Bildung voranzubringen. Sie haben das Geld oft falsch verwendet, nämlich hauptsächlich konsumiert. Dieses Problem werden Sie nicht lösen, indem sie ein Pflaster draufkleben. Deutschland leistet das meiste in Europa, bei jedem europäischen Programm zahlt Deutschland am meisten ein. Das ist unser Solidaritätsbeitrag, und wir sind auch bereit, das fortzusetzen. Aber im Gegenzug erwarten wir auch, dass Verträge eingehalten werden.

Frau Merkel sagt, Eurobonds könnten am Ende des Prozesses stehen. Gehen Sie mit?

In der Ablehnung von Eurobonds sind wir uns mit der Kanzlerin völlig einig. Wenn wir einen europäischen Bundesstaat mit einer handlungsfähigen europäischen Gesamtregierung hätten, dann wäre das eine andere Konstellation. Einen solchen europäischen Bundesstaat sehe ich aber auf absehbare Zeit nicht.

Die zweite Möglichkeit wären Hilfen der Europäischen Zentralbank. Warum lehnen Sie auch das ab?

Weil es nicht die Aufgabe der EZB ist, Fiskalpolitik zu machen. Italien zum Beispiel ist ein industrielles, leistungsfähiges Land, das nur richtig regiert werden muss. Ich fände es auch schöner, wenn der Onkel kommt und ohne Gegenleistung alles bezahlt. Aber das ist nicht die Lösung ...

... Sind wir der Onkel, der alles bezahlt?

Wir sind es nicht. Es gibt aber den einen oder anderen, der genau das will. Wichtig ist, dass die Achsen jetzt richtig gelegt werden.

Schauen wir nach vorne: Sind Sie in 14 Tagen noch Vorsitzender einer Regierungsfraktion, wenn der FDP-Mitgliederentscheid so ausgeht, dass eine Mehrheit den ESM ablehnt?

Mein Eindruck aus der Debatte in der Partei ist, dass wir eine klare Mehrheit für den Antrag des Bundesvorstands bekommen werden. Wir wollen eine europäische Stabilitätsunion, keine Schuldenunion. Die Analyse von Frank Schäffler ...

... der die Gegner des Rettungsschirms ESM anführt ...

... seine Analyse mag ja teilweise nachvollziehbar sein, aber er hat keinen Lösungsvorschlag für Europa. Deutschland darf sich nicht wieder singularisieren. Alleingänge sind uns in der Geschichte nie gut bekommen. Wir brauchen eine europäische Perspektive.

Geht es um die „Zukunftsfähigkeiten der Liberalen“, wie Ihr Ehrenvorsitzender Hans-Dietrich Genscher sagt?

Es geht um eine zentrale Zukunftsfrage. Das Ergebnis des Mitgliederentscheids wird in die Entscheidung des einzelnen Abgeordneten sicherlich mit Gewicht eingehen. Aber wie er im Parlament abstimmt, kann nur er selbst entscheiden. Denn es gibt eine klare Regelung im Grundgesetz, dass Abgeordnete bei ihren Entscheidungen nicht einem imperativen Mandat unterworfen sind, also nicht an Weisungen gebunden sind. Auf dieses Recht beruft sich Herr Schäffler ja auch.

Werden Sie einem ESM zustimmen, selbst wenn die Mehrheit der Partei dagegen ist?

Die parlamentarische Abstimmung über den ESM steht ja noch gar nicht an. Er muss erst noch ausverhandelt werden. Ich werbe aber sehr dafür, dass der ESM bald auf den Weg gebracht wird, mit klaren Auflagen und Stabilitätsmechanismen. Und dann werde ich auch zustimmen.

Sie wollen weiterregieren, auch wenn die FDP-Mitglieder gegen die Parteiführung stimmen. Welche Bedeutung hat dann das Votum überhaupt noch?

Der Mitgliederentscheid ist für uns Liberale ein lebendiges Instrument der innerparteilichen Demokratie. Diese Möglichkeit bieten andere Parteien ihren Mitgliedern gar nicht. Zudem sind unsere Veranstaltungen im Rahmen des Mitgliederentscheids öffentlich. Wir führen auf den Veranstaltungen einen intensiven Dialog nicht nur mit den Mitgliedern, sondern auch mit vielen interessierten Bürgern. Wie gesagt, wir nehmen den Mitgliederentscheid ernst. Es geht dabei um die Haltung der Partei in einer Sachfrage und nicht um die Regierungsbeteiligung. Die FDP hat bei der Bundestagswahl mit dem besten Ergebnis ihrer Geschichte einen klaren Regierungsauftrag bekommen. Diesen Auftrag werden wir bis zum Ende der Legislaturperiode wahrnehmen.

Der baden-württembergische Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann hat das Votum der Menschen für den Bau des Stuttgarter Bahnhofs akzeptiert, auch wenn er das Projekt selbst ablehnt. Nötigt Ihnen eine solche Haltung keinen Respekt ab?

Respekt hätte ich, wenn die Grünen Konsequenzen aus ihrem Scheitern auf ganzer Linie bei Stuttgart 21 ziehen würden. Ich bin sehr gespannt, wie Herr Kretschmann und vor allem sein grüner Verkehrsminister jetzt glaubwürdig die klare Entscheidung der Bürger umsetzen wollen. Bei all den Forderungen, die jetzt an die Bahn gestellt werden, vermute ich eher eine sehr formelle Akzeptanz des Bürgerentscheids.

Herr Brüderle, vor knapp einem Monat wurde die Öffentlichkeit mit der Erkenntnis konfrontiert, dass es seit Jahren in Deutschland rechtsextremen Terror gibt. Wann ist Ihnen dessen Dimension bewusst geworden?

Im Laufe der Berichterstattung. Wir müssen die Ergebnisse der Ermittlungen aber abwarten. Erst dann ist das Ausmaß klar und zu beurteilen. Der Verdacht des Behördenversagens wiegt schwer und muss aufgeklärt werden.

Wie ist ein solches Versagen zu erklären?

Wie gesagt, die Aufklärung läuft und deren Ergebnisse müssen wir abwarten. Für mich ist neben der zügigen Ermittlung der Taten auch eine Diskussion über die Zukunft der staatlichen Strukturen wichtig.

Sie wollen die Zahl der Landesverfassungsschutzämter reduzieren?

Für mich ist entscheidend, dass es weiterhin eine strikte Trennung von Polizei und Verfassungsschutz gibt. Das sind wir unserer Geschichte schuldig. Darüber hinaus jedoch müssen die Strukturen geprüft und möglicherweise neu organisiert werden. Ich habe erhebliche Zweifel, ob die Zusammenarbeit zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und weiteren 16 Landesämtern in Deutschland vernünftig funktioniert. Deshalb erwarte ich, dass die Innenminister von Bund und Ländern Vorschläge unterbreiten, wie der Verfassungsschutz in Zukunft seiner gesetzlichen Aufgabe gerecht werden kann.

Bei der Suche nach Hintermännern der rechten Terrorzelle haben die Ermittlungsbehörden vergeblich Verbindungsdaten bei den Internetprovidern abgefragt. Sie waren beinahe alle schon gelöscht. Verändert das Ihre Auffassung zur Vorratsdatenspeicherung?

Nein. Auch in einer solchen Lage dürfen wir die Rechtsstaatlichkeit nicht aufs Spiel setzen. Wenn wir als Konsequenz aus solchen Taten jeden unschuldigen Bürger kontrollieren, dann haben die Gegner der Freiheit gewonnen. Deshalb muss man mit Freiheitsrechten sehr vorsichtig umgehen. Die totale Überwachung der Bürger ist mit der FDP nicht zu machen.

Bundesinnenminister Friedrich hat einen Kompromiss vorgeschlagen: Die Daten sollen vier statt sechs Monate gespeichert werden. Können Sie das akzeptieren?

Mich stört der Reflex, immer sofort schärfere und neue Gesetze zu fordern, die die Freiheit der Bürger unverhältnismäßig einschränken. Unsere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat meine Unterstützung. Sie kämpft für eine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit.

Ihr Koalitionspartner hat Ihnen beim Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder nicht in Kitas bringen wollen und das die FDP immer abgelehnt hat, vor kurzem einen Kompromiss abgerungen. Nun debattiert die Union über zusätzliche Anrechnungszeiten der Kindererziehung auf die Rente. Kann die FDP da mitgehen?

Die FDP ist vertragstreu. Wir haben im Koalitionsvertrag einer Prüfung des Betreuungsgeldes trotz unserer Skepsis zugestimmt. Diese Zusage haben wir jetzt eingehalten. Laufende Diskussionen in der Union will ich nicht bewerten, für uns gilt das Beschlossene.

Im Koalitionsvertrag haben Sie auch verschiedene steuerpolitische Reformen vereinbart. Unter anderem eine Mehrwertsteuerreform oder Veränderungen bei den Unternehmenssteuern. Hat Finanzminister Schäuble mit Ihnen besprochen, dass er all diese Pläne von der Agenda dieser Legislaturperiode streichen will?

Die Stabilität des Euro und die Konsolidierung der Haushalte stehen für uns zurzeit im Vordergrund. Daher müssen wir Prioritäten setzen und klären, was in dieser speziellen Situation in den einzelnen Bereichen machbar ist. Am Thema Steuervereinfachung halten wir auf jeden Fall fest. Das ist auch mit der Union so vereinbart. Die Bundesregierung hat im Übrigen doch selbst klargestellt, dass die steuerpolitischen Themen auf der Tagesordnung bleiben.

Ein Mitgliederentscheid, der die Koalition ins Wanken bringen könnte, ein Finanzminister, der ohne Ihr Mittun Verabredungen von der Tagesordnung nimmt: Läuft die Zeit der schwarz-gelben Koalition vielleicht doch rascher ab, als Sie glauben, Herr Brüderle?

Wir haben den klaren Auftrag der Wähler, bis zur nächsten Bundestagswahl 2013 zu regieren, und kämpfen dafür, dass die erfolgreiche schwarz-gelbe Koalition auch darüber hinaus fortgesetzt werden kann.

Das Gespräch führten Antje Sirleschtov und Hans Monath. Das Foto machte Paul Zinken.

MENSCH

Der 66-jährige Rainer Brüderle ist gebürtiger Berliner und examinierter Diplomvolkswirt. Seit 1973 ist er Mitglied der FDP.

LANDESPOLITIKER

Von 1983 bis 2011 führte Brüderle den FDP-Landesverband Rheinland-Pfalz. Von 1987 bis 1998 fungierte er als Wirtschaftsminister, viele Jahre davon war er auch stellvertretender Ministerpräsident.

BUNDESPOLITIKER

Seit 1998 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages. Mit dem Sieg von Schwarz-Gelb wurde er am 28. Oktober 2009 zum Bundesminister für Wirtschaft und Technologie vereidigt. Seit Mai 2011 ist er Vorsitzender der FDP im Deutschen Bundestag.

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