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Politik: „Die Türkei ist noch nicht so weit“

EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen über Beitrittskandidaten, Reformen und Korruption

Herr Verheugen, innerhalb der EU wächst der Widerstand, die Türkei als Mitglied aufzunehmen. Wird die Tür für Ankara geschlossen?

Nein. Die EU hat vor drei Jahren in Helsinki entschieden, dass die Türkei den Anspruch auf gleichberechtigte Mitgliedschaft hat. Daran hat sich nichts geändert. Dazu muss sie allerdings zunächst einmal unseren politischen Standards genügen – im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte.

Dennoch soll der Türkei im Dezember in Kopenhagen kein Datum für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen angeboten werden.

Das ist noch nicht entschieden. Die dänische Ratspräsidentschaft unterstützt den Standpunkt der Kommission, dass erst über ein Datum entschieden werden kann, wenn die politischen Bedingungen vollständig erfüllt sind. Und wie unser Fortschrittsbericht über die Türkei zeigt, der ja erst wenige Wochen alt ist, sind die politischen Bedingungen zur Zeit nicht erfüllt, trotz beeindruckender Fortschritte. Man muss aber sehen, dass der Reformprozess in der Türkei erst durch die Beitrittsperspektive wirklich in Gang gekommen ist.

Könnten Sie sich auch eine Mitgliedschaft Israels vorstellen, wie sie der israelische Außenminister Netanjahu vorgeschlagen hat?

Der Vorstoß Netanjahus zeigt, dass es dringend notwendig ist, dass wir uns intensiv Gedanken machen, wie wir langfristig das Verhältnis zu unseren regionalen Nachbarn gestalten. Es kann nicht immer die volle Mitgliedschaft sein, wir sollten etwas anderes in unserem Instrumentenkoffer haben.

Auch über die Behandlung der neuen Mitglieder wird noch diskutiert. Die Polen bezeichnen das Agrar-Angebot der EU als „Quasi-Diktat“. Wird es in Kopenhagen noch Konzessionen geben?

Wir sind jetzt in der Endphase außerordentlich schwieriger Verhandlungen, und die werden nicht öffentlich geführt. Meine Einschätzung ist, dass wir in Kopenhagen mit einem Verhandlungsergebnis ankommen werden, das für alle Parteien vertretbar ist. Auch für Polen. Dass bei den Agrarverhandlungen die Flexibilität begrenzt ist, ergibt sich aus dem Beschluss des europäischen Rates in Brüssel, dass das Agrarbudget nach 2006 eingefroren wird. Aber es gibt schon eine gewisse Flexibilität, wenn es an die für die Polen viel wichtigere Frage der Produktionsquoten geht.

Im nächsten Jahr findet in Polen ein Referendum über den EU-Beitritt statt. Könnte es an den Bauern scheitern?

Nein, denn Polen ist genauso wenig ein Agrarland wie Deutschland. Die Meinung der Bauern ist wichtig, aber nicht entscheidend. Der Anteil der polnischen Landwirtschaft am Bruttosozialprodukt beträgt schließlich weniger als drei Prozent. Laut Umfragen ist bei einem Referendum in Polen derzeit mit einer dreiviertel Mehrheit zu rechnen.

Dennoch sind viele polnische Bauern nicht erfreut darüber, dass sie zunächst nur 25 Prozent der üblichen Beihilfen erhalten?

25 Prozent – das gilt nur im ersten Jahr. Die Beihilfe wächst jährlich an und erreicht schließlich 100 Prozent. Die Bauern werden die einzige Gruppe in Polen sein, die direkt messbare Einkommenszuwächse nach der Erweiterung haben werden. Ein Großteil produziert überhaupt nicht für den Markt, sondern für die eigene Versorgung. Für diese Kleinbauern ist die Einkommenshilfe ein gewaltiger sozialer Fortschritt.

Die Kandidaten beschweren sich auch darüber, dass Sie den bisherigen Binnenmarkt zunächst mit „Schutzklauseln“ vor den Produkten der neuen Mitglieder abschotten möchten.

Darum geht es überhaupt nicht. Der Handel mit Gütern ist schon vollständig liberalisiert, Agrarprodukte noch nicht ganz. Wir müssen einfach mit Anpassungsproblemen rechnen. Die Schutzklauseln sollen sicher stellen, dass wir diese lösen können, wenn Firmen zum Beispiel nicht nach den EU-Standards produzieren. Sie sind notwendig, weil wir mit Erweiterungen dieser Art keine Erfahrung haben. Es ist eine Risikovorsorge. Bei der letzten Erweiterung beispielsweise war das anders – Finnland, Schweden und Österreich waren im europäischen Wirtschaftsraum und hatten große Teile des Rechtes schon übernommen.

Wie sieht es mit der Lebensmittelsicherheit aus?

Es kommen nur solche Lebensmittel aus den neuen Beitrittsländern auf den Binnenmarkt, die den Standards entsprechen.

Auch bei der Korruption sind die Beitrittskandidaten weit von den EU-Standards entfernt.

Solche Standards gibt es nicht. Es ist realistisch anzunehmen, dass in Ländern, wo der Transformationsprozess zur privaten Wirtschaft noch nicht abgeschlossen ist, Korruption stattfindet. Die Privatisierungsprozesse in Ostdeutschland waren auch für Korruption anfällig. Anders als in Mitgliedsländern, von denen einige im internationalen Korruptionsvergleich schlechter abschneiden als einige Kandidaten, können wir in den Kandidatenländern auf effektive Korruptionsbekämpfung drängen. Das tun wir mit Erfolg.

Und auch das kostet. Rot-Grün will, dass der Haushalt der EU nach der Erweiterung weit unter 1,27 Prozent des EU-Bruttosozialprodukts liegt. Reicht das?

Von den 1,27 Prozent sind wir weit entfernt, Im Jahr 2006, also im dritten Jahr der Erweiterung, werden wir bei 1,09 Prozent sein. Herr Eichel muss sich von daher keine Sorgen machen. Die finanzielle Gesamtbilanz der Erweiterung fällt im Übrigen für Deutschland positiv aus – dank der schnell wachsenden Märkte in Ost- und Mitteleuropa.

Das Gespräch führten Mariele Schulze-Berndt und Flora Wisdorff.

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