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Die Aussagen des türkischen Präsidenten drücken das Empfinden aus, vom Westen nicht auf Augenhöhe anerkannt zu werden.

© dpa

Die Türkei und die EU: Erdogan droht mit Ende des Flüchtlingsabkommens

Ankaras Rhetorik zeigt, wie tief frustriert die Türkei über die EU ist. Das dürfte auch Außenminister Steinmeier bei seinem Besuch am Dienstag zu spüren bekommen.

Bittere Vorwürfe und wütende Schmähungen richtet die türkische Führung an die Europäer und insbesondere an Deutschland, das derzeit als bevorzugtes Feindbild herhalten muss. Am lautesten poltert Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens droht, doch auch die Regierung geizt nicht mit giftigen Sprüchen.

Wenn Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Dienstag nach Ankara reist, wird er sich auf einiges gefasst machen müssen. Doch Steinmeier täte gut daran, auch auf die Untertöne der türkischen Vorwürfe zu hören, aus denen immer deutlicher Beleidigung und ein tiefer Minderwertigkeitskomplex sprechen.

„Der Westen, seine Medien und seine Politiker wollen die Türkei belehren“, beschwerte sich Erdogan vor dem türkischen Handwerkertag in dieser Woche über europäische Kritik an der Verhaftung von mehreren Abgeordneten der Oppositionspartei HDP.

„Aber als ich eingesperrt wurde, wo waren diese Herrschaften da?“ Er erinnerte daran, dass er 1998 als Oberbürgermeister von Istanbul abgesetzt wurde und vier Monate im Gefängnis saß, weil er bei einer Wahlkampfrede ein kontroverses Gedicht vorgetragen hatte.

Das Problem an der Ungerechtigkeit ist, das es keine gibt

„Ich habe mich damals auch an diese Herrschaften gewandt, aber die hat das nicht geschert“, sagte er über die Europäer. „Und als meine Partei verboten wurde, wo wart Ihr da?“, redete er sich in Rage. „Da wird eine Partei verboten, die 350 Abgeordnete im Parlament hat und alleine regieren kann – und von Euch kommt kein Pieps!“

Mit rauschendem Applaus bekundeten die Handwerker dem Staatspräsidenten ihr Beileid für diese Ungerechtigkeiten. Das Problem ist nur, dass es nicht so war. Die EU bedauerte 1998 ausdrücklich das Urteil gegen Erdogan und äußerte ihre „Besorgnis über die Beschränkung von Demokratie und Meinungsfreiheit, die aus der Verurteilung eines demokratisch gewählten Politikers wegen einer gewaltfreien Meinungsäußerung unweigerlich folgt“.

Und das Verbot der Erdogan-Partei konnte die EU deshalb nicht verurteilen, weil es nie geschah: Der Antrag auf Verbot der AKP, auf den Erdogan anspielte, wurde 2008 vom Verfassungsgericht abgelehnt. Sehr wohl kritisierte die EU in ihrem Fortschrittsbericht damals den Verbotsantrag gegen die AKP und das türkische Parteiengesetz, das den Prozess überhaupt ermöglicht hatte.

Erdogan droht mit einem Referendum über einen EU-Beitritt

Leicht wahnhafte Züge tragen diese Erinnerungen von Recep Tayyip Erdogan, doch in ihrem Kern entsprechen sie dem türkischen Empfinden, vom Westen nicht auf Augenhöhe anerkannt zu werden. „Hat der Westen im Traum schon einmal etwas für uns getan?“, fragte Erdogan auch Ärzte und Akademiker bei einer Ehrendoktorverleihung in dieser Woche unter großem Beifall.

„Wenn wir etwas von den Europäern wollen, dann heißt es: ’Wir sind ein Rechtsstaat, wir können nicht in die Justiz eingreifen, unsere Justiz ist frei und unabhängig’“, klagte der Staatspräsident. „Soso, EURE Justiz ist also frei und unabhängig – und UNSERE ist wohl ein Witz, was?“

Mit rhetorischem Geschick umkurvte Erdogan dabei das Problem, dass die türkische Justiz tatsächlich nicht frei und unabhängig ist. Mit sicherem Gespür traf er aber die latente Frustration, die sich in der Türkei in mehr als 50jähriger Wartezeit an der Türe Europas angestaut hat – und die sich jetzt entlädt, wo klar wird, dass das Land wohl nie aufgenommen wird.

Die Geduld Ankaras sei „nicht unendlich“

„Die Deutschen sehen das so: ‚Wir sind ein großes Land, wir sind das mächtige Deutschland – wenn ich mit einem türkischen Minister sprechen will, dann muss der springen‘“, erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu, warum er Steinmeier diese Woche zweimal am Telefon abblitzen ließ. „Tut mir leid, so geht das nicht – diese Einstellung, dass sie erste Klasse sind und die Türkei zweite Klasse, das muss sich ändern“, sagte Cavusoglu.

Erdogan warf der EU in einem Gespräch mit der Zeitung „Hürriyet“ erneut vor, den Beitrittsprozess zu behindern. „Die EU versucht uns dazu zu bringen, dass wir uns aus dem Prozess zurückziehen. Wenn sie uns nicht wollen, sollen sie das klar sagen und beschließen“, sagte Erdogan.

Die Geduld Ankaras sei „nicht unendlich“. Wenn es notwendig sei, könne die Türkei ein Referendum abhalten.

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