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Politik: Die Veränderung nicht fürchten

Von Wolfgang Schäuble

Anstrengend waren die Bemühungen zur Bildung einer großen Koalition. Das kann nicht wirklich überraschen angesichts der Probleme, mit denen unser Land konfrontiert ist, und angesichts der Tatsache, dass die beiden großen Volksparteien auf Bundesebene – mit der Ausnahme von 1966 bis 1969 – immer als Regierung und Opposition gegeneinander standen. Und dabei war noch etwas Drittes zu spüren, wie schwer es nämlich in unserer gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit ist, Entscheidungen, die grundlegende Veränderungen bewirken können, zustande zu bringen.

Die Beratungen über die Reformen unserer bundesstaatlichen Ordnung können als Beispiel dienen. Am Anfang stand in der vergangenen Legislaturperiode die gemeinsame Überzeugung von Bund und Ländern und aller Parteien, dass eine solche Reform notwendig ist, die den Ländern mehr Raum zu eigener Entscheidung und Gestaltung schafft und dafür die Mitwirkung des Bundesrates an der Gesetzgebung des Bundes ein Stück zurücknimmt, um die Entscheidungsfähigkeit unseres föderalen Systems zu verbessern. So kam es zur Bildung einer gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat, die unter Beteiligung aller Landesregierungen und Bundestagsfraktionen mit vielen Sachverständigen intensiv gearbeitet hat. Was in der vergangenen Legislaturperiode auch wegen der vorgezogenen Neuwahl nicht mehr gelang, haben wir jetzt in den Koalitionsverhandlungen zu einem gemeinsamen Vorschlag zusammengebunden. Bei allen Verbesserungen, die darin enthalten sind, den ganz großen Entwurf für eine grundlegende Neugestaltung sollte niemand erwarten. Um verfassungsändernde Zweidrittelmehrheiten im Bundesrat und Bundestag zustande zu bringen, waren bei der Komplexität der Probleme und Interessen aller Beteiligten mühsame Kompromisse notwendig. Wer das kritisiert, muss wissen, dass anders Entscheidungen eben nicht zu erzielen sind.

So ähnlich ist das bei der Reform der Vereinten Nationen gewesen. Ich habe mich an die Verhandlungen zum Vertrag für die Deutsche Einheit vor 15 Jahren erinnert, wo jeder Versuch, den Neuanfang der Wiedervereinigung zu einer grundlegenden Neuordnung auch im Westen zu nutzen, von vornherein aussichtslos war. Genauso mussten bei der Erweiterung der Europäischen Union im vergangenen Jahr die zehn neuen Mitglieder den so genannten Acquis communitaire auf Punkt und Komma erfüllen, anstatt dass man bei dieser Gelegenheit die überzogene Regulierungsdichte der Europäischen Union einmal grundlegend überprüft hätte. Das ist die Schwerfälligkeit einer über lange Zeit gewachsenen Ordnung. Revolutionen haben es da leichter. Die können die Gunst einer Stunde null nutzen, aber der Preis dafür ist in aller Regel zunächst eine große Katastrophe. Und der ist zu teuer.

Deshalb sollten wir die Mühsal von Reformen unter Bewahrung der Grundlagen einer rechtlich verfassten Ordnung nicht beklagen. Aber wir sollten sie auch nicht scheuen, und wir sollten die Chance für schrittweise Veränderungen auch nicht durch die Art unserer öffentlichen Debatten zusätzlich erschweren.

Die aber bleiben notwendig. Die Welt und die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse verändern sich rasend schnell. Darin müssen wir uns behaupten. Stillstand ist Rückschritt, „Wer rastet, rostet“, weiß der Volksmund. Das gilt auch für unser Gemeinwesen. Veränderung tut Not. Wir sollten sie nicht fürchten.

Der Autor ist Präsidiumsmitglied der CDU und designierter Innenminister.

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