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Seit der Wiedervereinigung haben 152 Menschen infolge rechter Gewalttaten ihr Leben verloren.

© dpa (6), privat (4), Polizei, Getty

Update

Die vergessenen Toten: Weit mehr Opfer rechter Gewalt als bisher vermutet

Die Zahl der Opfer rechter Gewalt in Deutschland liegt wohl deutlich höher als bislang angenommen. Bei 746 ungeklärten Tötungen und Tötungsversuchen gibt es den Verdacht auf rechte Motive. Die Prüfung sei lange überfällig, sagen Kritiker.

Recherchen des Tagesspiegels und der „Zeit“ kamen bereits auf 152 Todesopfer rechter Gewalt in Deutschland. In den offiziellen Polizeistatistiken werden bisher nur 63 Opfer aufgeführt. Das könnte sich nun ändern. Denn eine neue Überprüfung der 3300 ungeklärten Fällen in der Bundesrepublik im Zeitraum 1990 bis 2011 durch Landespolizeibehörden und Bundeskriminalamt kommt zu dem Zwischenergebnis, dass 746 Fälle mit 849 Opfern möglicherweise ein rechtes Tatmotiv aufweisen. In dieser Zahl verbergen sich Fälle mit Getöteten und Schwerverletzten. Das bestätigte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums dem Tagesspiegel.

Für die Überprüfung wurde ein Indikatorenkatalog erstellt: Passen die Opfer in Tatmotive Rechtsradikaler? Waren es Migranten, Obdachlose oder Homosexuelle? Gibt es politische Hintergründe? Oder waren es Aussteiger? Diese Fragen waren Grundlage zur Bildung des Indikatorenkatalogs.

Tagesspiegel und "Zeit" recherchierten 152 Todesopfer

Die Recherchen des Tagesspiegels und der „Zeit“ kamen für diesen Zeitraum auf 152 Todesopfer. Allerdings gibt es bei diesen von Tagesspiegel und „Zeit“ recherchierten Fällen auch Tatverdächtige. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat deshalb die 152 von den 849 abgezogen, so bleiben 698 Fälle mit Getöteten oder Schwerverletzten ohne Tatverdächtige übrig. Das BKA soll die Fälle nun im zweiten Quartal 2014 noch einmal evaluieren und überprüfen. Die Fälle, die am Ende als wirklich relevant übrig bleiben werden möglicherweise auch noch einmal neu aufgerollt.

Angestoßen wurde die neue Überprüfung durch einen Erlass des Bundesinnenministeriums Ende 2011. Noch ist nicht klar, wie hoch die Zahl rechter Todesopfer in der offiziellen Statistik am Ende tatsächlich sein wird, aber die Zahl der bisher geführten 63 Todesopfer wird vermutlich deutlich übertroffen.

Andreas P. zum Beispiel fehlt in der Statistik. Der Obdachlose wurde in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 2006 im bayerischen Plattling zusammengeschlagen, mit Spiritus übergossen und angezündet. Der Täter: ein Neonazi, der wegen Totschlags ins Gefängnis wanderte. In die Liste der Todesopfer rechter Gewalt wurde Andreas P. aber nicht aufgenommen. Oder Peter S.: Der 40-Jährige wurde am 26. April 2008 in Memmingen von einem Rechtsradikalen erstochen. Peter S. hatte sich zuvor über die rechte Musik des Mannes beschwert. Auch sein Tod gilt nicht als rechtsmotivierte Tat. Das Netzwerk „Mut gegen rechte Gewalt“ hat die Fälle der beiden zusammengetragen - neben 119 anderen seit 1990, die nicht in der offiziellen Statistik zu den Todesopfern rechtsextremer Schläger auftauchen.

Ist jedes Verbrechen eines Rechtsextremisten eine rechtsmotivierte Straftat?

Der Streit über die Zählweise läuft seit Jahren. Ist jedes Verbrechen eines Rechtsextremisten eine rechtsmotivierte Straftat? Oder gilt das nur für Fälle, in denen Täter beim Zuschlagen rechte Parolen brüllen, ein Hakenkreuz hinterlassen oder ihre Gesinnung anders zu erkennen geben? Die Neonazis der Terrorzelle NSU hinterließen keine eindeutigen rechtsextremen Spuren. Jahrelang zogen sie mordend durch Deutschland, töteten neun türkisch- und griechischstämmige Männer und eine Polizistin, ohne dass die Ermittler den politischen Hintergrund erkannten. Es war ein beispielloses Versagen von Polizei und Verfassungsschutz: Sie schauten in die falsche Richtung, stellten die falschen Fragen und verdächtigten die Falschen. Auch die zehn Opfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ fehlten lange in der offiziellen Statistik - bis die Bande 2011 aufflog.

Nach dem Schock über die NSU-Morde begann die Polizei in Bund und Ländern, die Archive zu durchforsten und alte unaufgeklärte Fälle noch einmal unter die Lupe zu nehmen - allerdings nur jene, in denen es keine Tatverdächtigen gab.

Jene, die schon lange genauer hinschauen, sind wenig überrascht über die neuen Verdachtsfälle. Anetta Kahane ist Vorsitzende der Amadeu-Antonio-Stiftung, die seit Jahren gegen Rechtsextremismus kämpft und Opfer aufspürt. „Jahrelang wurde die Dimension rechter Gewalt durch die Sicherheitsbehörden verharmlost“, sagt sie. Die Linke-Politikerin Petra Pau, die als Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss saß und in aller Regelmäßigkeit Zahlen zu politisch motivierter Kriminalität zusammenträgt, meint: „Die Überprüfung ist überfällig.“ Die Diskrepanz zwischen den offiziellen und inoffiziellen Zahlen sei nicht hinnehmbar. (mit dpa)

Eine Dokumentation des Tagesspiegels und der "Zeit" mit einer interaktiven Grafik findet sich hier.

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