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Politik: „Die Wahrheit wird bewusst verschleiert“

Paul Kirchhof über Wahlkampf, deutsches Steuerrecht – und sein Verhältnis zu Angela Merkel

Herr Kirchhof, schmerzen die Erinnerungen an Ihren Bundestagswahlkampf im letzten Jahr noch?

Nein. Mein vermeintlicher Ausflug in die Politik hat mir den Unterschied zwischen der Welt der Wissenschaft und der Welt der Politik klar vor Augen geführt. Hier wird in einem fairen Verfahren um die besten Konzepte gerungen. Man prüft die Gedanken des Konkurrenten und macht sich die besten Teile zu Eigen. Dort, und damit meine ich vor allem die politische Zeit des Wahlkampfes, wird der politische Gegner ins Dunkel der Unglaubwürdigkeit gezogen. Sein Konzept wird um des eigenen politischen Vorteils willen mit Fehlinformationen zugeschüttet.

Sie haben die Politik als eine Welt des Misstrauens bezeichnet.

Eine gefährliche Entwicklung für unsere Gesellschaft. Wenn Politiker einander niedere Beweggründe unterstellen, werden nicht nur die Politik und ihre Akteure beschädigt. Dem Bürger wird vor allem der Blick auf die Inhalte schwer gemacht. Wie sollen Menschen Vertrauen fassen, wenn es nicht im Interesse von Politikern liegt, ihnen die Zusammenhänge in unserer so komplizierten Welt zu erklären, wenn die Wahrheit stattdessen bewusst verschleiert wird. Die beiden Regierungsparteien haben sich noch vor einem Jahr gegenseitig vorgeworfen, das Land in den Ruin treiben zu wollen. Das vergessen Wähler so schnell nicht, und es ist ganz natürlich, dass sie jetzt, wenn die Kontrahenten von gestern gemeinsam regieren, den großen Wurf der Staatssanierung erwarten.

Gerhard Schröder hat Sie im letzten Wahlkampf als „den Professor aus Heidelberg“ bezeichnet, der mit seinem Steuerkonzept die Reichen bevorteilen will.

Der politische Gegner hatte einfach das größere Mikrofon. Dagegen hatte ich keine faire Chance. Wo immer ich im Wahlkampf unser einfaches und gerechtes Steuersystem erläutert habe, wollten mir die Menschen folgen.

Auch die Union hat sich auf den Wahlkampftribünen von Ihrem Steuerkonzept distanziert. Tragen Sie ihr, tragen Sie der Bundeskanzlerin, den Verrat noch nach?

Frau Merkel verdient mit ihrer Kunst der Folgerichtigkeit und des Ausgleichs Respekt. Das Verhältnis zu ihr ist tadellos. Das war vor und im Wahlkampf so, und das gilt auch heute. Dass es auch in der Union mächtige Interessengruppen gab und gibt, die unser Steuerkonzept nicht im Gesetzblatt sehen wollen, muss ich akzeptieren. Unser Konzept folgt dem sehr gerechten Prinzip, die Steuersätze für alle zu senken und dafür die Privilegien der Einzelnen abzuschaffen. Es gibt Besitzer sehr großer Privilegien, die ihren Vorteil keinesfalls preisgeben wollen.

Ihr Steuerkonzept sieht für alle Einkommensbezieher einen einheitlichen Steuersatz, die Flat tax, vor. Haben die Deutschen im letzten Herbst mit der Abwahl des Finanzministers Kirchhof auch gegen diese Steuerreform entschieden?

Ganz im Gegenteil. Noch immer reise ich durch Deutschland und erkläre unser Reformkonzept. Und wo ich früher in Räumen sprach, da brauche ich jetzt Säle. Die Menschen verstehen, dass wir ihnen Freiheit geben, und immer mehr sind bereit, ihre steuerlichen Privilegien dafür einzutauschen. Im Übrigen entlasten auch wir die kleinen Einkommen. Für dieses gute Steuerkonzept ringe ich.

Sie planen ein Comeback in die Politik?

Nach dem Wahlkampf habe ich den Weg zurück in die Welt der Wissenschaft und Lehre gefunden. Und dabei soll es auch bleiben.

Dann gibt es aber niemanden, der für politische Mehrheiten einer Flat tax kämpft. Die große Koalition will davon nichts wissen. Sozialdemokraten meinen gar, die Steuerquote ist zu niedrig, um die Aufgaben des Staates zu erfüllen.

Die Bundesregierung will die Unternehmenssteuern senken, und es liegen dafür unterschiedliche Konzepte vor. Als Verfassungsrechtler, aber auch als an der ökonomischen Lage des Landes interessierter Bürger muss ich erkennen, dass alle Gedanken, die es zurzeit im Steuerrecht gibt, den Faktor Arbeit immer mehr belasten und den Faktor Kapital entlasten wollen.

Sie meinen, mit der geplanten Unternehmenssteuerreform muss es auch eine Einkommensteuerreform geben?

Natürlich. Wir erleben eine Abschaffung von Entlastungen, etwa die Eigenheimzulage, das Baukindergeld, die Familienzulage im öffentlichen Dienst. Wo aber bleibt der Gegenwert für die Einkommensbezieher, die Arbeit leisten? Die große Koalition muss, wenn sie die Subventionen weiter abschmilzt, auch die Steuersätze senken. Sonst verteuert sie Arbeit effektiv. Und mit der Senkung der Steuersätze für Kapitalgesellschaften wird das Ungleichgewicht noch größer. Das ist sehr gefährlich für den Wirtschaftsstandort und ein falscher Ansatz. Nur, wenn wir kluge Köpfe im Land haben, wird das Kapital zu uns kommen. Wenn wir die Köpfe, also die Arbeit, weiter belasten, dann wird auch das Kapital fliehen. Und niedrigere Steuern werden das nicht aufhalten. Die Probleme würden in Zukunft noch drängender. Wenn die große Koalition die Ungleichgewichte zwischen Kapital und Arbeit noch weiter verschärft, dann wird der Ruf nach grundsätzlichen Steueränderungen, nach mehr Gleichheit und Vereinfachung, immer größer werden.

Nun will die große Koalition eine Reichensteuer einführen.

Damit wird die Ungerechtigkeit des Systems auf die Spitze getrieben. Große Kapitalgesellschaften brauchen sich um diese Reichensteuer keine Gedanken zu machen. Aber Freiberufler und Mittelständler werden extrem belastet. Das verstößt gegen die Steuergleichheit. Die Union muss dafür sorgen, dass diese Reichensteuer verhindert wird.

Die Union plädiert dafür, gewerbliche Einkommen nicht mit 45 Prozent zu besteuern.

Das ist falsch. 1000 Euro Einkommen bei einem Gewerbetreibenden vermitteln gleiche Leistungsfähigkeit wie 1000 Euro bei einem Freiberufler. Nehmen Sie zwei Softwareentwickler. Der eine ist Freiberufler und muss Reichensteuer zahlen, der andere hat eine GmbH und wird davon verschont. Die Ungerechtigkeit springt förmlich ins Gesicht. Und wenn jetzt noch die Umsatzsteueranhebung dazukommt, dann wird denen, die in Deutschland arbeiten und deshalb hier konsumieren, eine weitere Last aufgebürdet, die eine Kapitalgesellschaft nicht tragen muss.

Frau Merkel will mit der Mehrwertsteueranhebung die Sozialabgaben senken und die Haushalte sanieren.

Die wichtigste Frage in dieser Diskussion ist, welche Ausgaben der Staat sparen kann, um die Haushalte zu sanieren.

Mehr als die Hälfte des Bundeshaushaltes wird für Rente, soziale Sicherung und Zinsen ausgegeben. Wollen Sie die Rente kürzen?

Wenn das Geld nicht reicht, muss sich die Gesellschaft auf Prioritäten einigen. Es mag sein, dass die deutsche Antwort lautet: Ja, die Rente ist uns am wichtigsten. Dann darf daran nicht gespart werden. Ein Professor aus Heidelberg kann diese Entscheidungen nicht treffen. Er kann der Politik nur raten. Nehmen Sie die Frage der Steuerfinanzierung von sozialer Sicherung, etwa der Gesundheitssicherung. Ich denke nicht, dass wir mit der Begründung, alle Schultern müssen die Last tragen, die gesamten Sozialversicherungssysteme über Steuern finanzieren sollten. Das würden die öffentlichen Etats auch nicht aushalten. Allerdings müssen wir feststellen, dass unserer Gesellschaft im Generationenvertrag mehr und mehr der Schuldner – nämlich die Kinder – abhanden kommt. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Man kann es daher nicht der Gemeinschaft der Sozialversicherten zur Finanzierung überlassen. Leistungen, die zur Lösung unserer gemeinsamen Zukunftsfähigkeit beitragen, also Familienleistungen, müssen von allen getragen werden. Die Gesundheitsversicherungsbeiträge für die Kinder gehören dazu, mögen ihre Eltern arm oder reich sein. Und auch die Beiträge der Elternteile, die für eine Weile kein eigenes Einkommen haben, weil sie Kinder erziehen, müssen wir als Gesellschaft tragen.

Die Kindermitversicherung wird rund 14 Milliarden Euro kosten.

Wir müssen sie aufbringen, denn wir sind fundamental bedroht in unserer Existenz.

Wird das Elterngeld den Kinderwunsch befördern?

Im Prinzip ist das eine richtige Entscheidung. Denn unsere Leistungsgesellschaft muss die Kindererziehung als Leistung anerkennen. Dafür sollte sie auch zahlen. In der Ausgestaltung ist das Elterngeld allerdings problematisch. Zum einen ist es zu gering, und zum anderen mischt sich der Staat in die Familienentscheidung ein, indem er Zahlungen an ein Wohlverhalten koppelt, das der staatlichen Vorstellung eheinterner Arbeitsteilung entspricht. Der Gesetzgeber will wieder einmal ein berechtigtes Anliegen mit einem Steuerungseingriff verbinden und die Menschen entmündigen.

Die zwei zusätzlichen Elterngeld-Monate könnten allerdings die Väter ermuntern, ihren Nachwuchs zu betreuen.

Ich bin grundsätzlich dagegen, dass der Staat den Menschen ihre Freiheit abkaufen, sie dafür bezahlen will, dass sie Kinder bekommen. Ich denke, in der Familienpolitik muss es um den Abbau von Benachteiligung der Familien gehen. Und da gäbe es eine Menge Besseres zu tun als sich in die Aufteilung der Erziehungsleistungen innerhalb der Familie einzumischen. Wir müssen sehen, dass in derselben Zeit, in der das Elterngeld eingeführt wird, wesentliche finanzielle Mittel für Familien gestrichen werden, ohne dass Ausgleich geschaffen wird. Ich nenne die Eigenheimzulage, die kinderbezogenen Bestandteile des Beamteneinkommens und natürlich die Mehrwertsteuer, die ganz wesentlich von Familien bezahlt wird. Alles in allem werden Familien Verluste erlitten haben, wenn das Elterngeld eingeführt wird. Familien wird mehr genommen als gegeben. Die große Koalition hat noch nicht ermessen,dass Familienpolitik die beste Wirtschaftspolitik ist. Ohne Markt – ohne Kinder – keine Wirtschaft. Ich erinnere ganz bewusst an das aussterbende Rom und mahne, die Familienpolitik nicht als Aufgabe nur eines Familienministeriums zu begreifen. Jeder Ressortchef – ob Wirtschafts-, Bildungs- oder Finanzminister – muss sie zu seiner Sache machen. Denn in jedem Bereich der Gesellschaft haben wir Realitäten, die das Erziehen von Kindern erschweren, und jeder muss sich am Abbau der Hemmnisse beteiligen.

Das Interview führte Antje Sirleschtov.

VERFASSUNG

Der Jurist Paul Kirchhof (Jahrgang 1943) wurde Ende der Achtzigerjahre einer der jüngsten Verfassungsrichter Deutschlands. Politiker bezeichneten ihn später als den „teuersten“ Richter in diesem Amt, weil sich Kirchhof in seinen Urteilen, etwa zum so genannten „Halbteilungsgrundsatz“, häufig im Sinne der Steuerzahler aussprach – und damit gegen die Haushaltspolitiker wandte.

FLAT TAX

Als Professor in Heidelberg erarbeitete Paul Kirchhof mit seinen Mitarbeitern ein spektakuläres Konzept zur Reform des deutschen Einkommensteuerrechtes. Der Grundsatz ist dabei ein Einheitssteuersatz von 25 Prozent auf alle Einkommen, die so genannte Flat tax.

POLIT-AUSFLUG

Im vergangenen Jahr zog Kirchhof als künftiger Finanzminister der Union in den Wahlkampf. Zuerst war er Angela Merkels größte Überraschung. Später galt seine Nominierung als einer der wichtigsten Gründe für das schlechte Abschneiden der Union.

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