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Margot Bendheim im Berliner Untergrund. Sie trägt ein Kreuz um den Hals und hat sich, um nicht als Jüdin erkannt zu wer- den, die Nase operieren lassen.

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Politik: Don’t call it Heimweh

Irgendwo ist jetzt Tag, irgendwo Nacht. Die Plastikrollos sind heruntergezogen.

Irgendwo ist jetzt Tag, irgendwo Nacht. Die Plastikrollos sind heruntergezogen. In dem eisernen Rumpf, in dem wir sitzen, brummt es diffus vor sich hin. Wir sind nicht mehr dort und noch nicht da. „Ich sitze so gern am Fenster“, sagt sie. Aus der Tiffany-Tüte neben ihr blinzelt Neustadt, der Stofftier-Welpe. Den hat man ihr letztes Jahr bei einer Lesung in Schleswig-Holstein geschenkt. Neustadt wegen Neustadt in Schleswig-Holstein. Das Bordkino zeigt die Abenteuer eines genialen Fuchses und seiner unterirdischen Freunde. Eine Überlebensgeschichte von Vertreibung, Existenzkampf, Widerstand und Flucht, mit zwiespältigem Happy End. An ihr ist der Film vorbeigerauscht, mit der Tonkanal-Technik, sagt sie, komme sie nicht klar. Geschlafen habe sie nicht. Nur gedöst. Träume vom Fliegen kenne sie nicht: „Ich träume nie.“ Vorm Fliegen habe sie früher große Angst gehabt. Von ihrer ersten Europareise Ende der Fünfzigerjahre war Margot Friedlander deshalb nicht im Flugzeug, sondern per Schiff nach Amerika zurückgekehrt. Damals lebte ihr Mann Adolf noch. An ein Stopover in Deutschland war nicht zu denken.

Begonnen hatte der Countdown dieses außergewöhnlichen Fluges am Samstag zuvor in New York. Von der Vorstadt Queens war sie nach Brooklyn gefahren, wo der deutsche Regisseur lebt, der vor sechs Jahren eine Dokumentation über ihr Leben gedreht hat. Jetzt soll aus dem, was aktuell passiert, eine Fortsetzung entstehen. Aber Sturm und Regen ziehen auf, das spektakulärste Unwetter seit 60 Jahren. Der Kameramann schafft es nicht bis Brooklyn. Das Flugzeug, mit dem aus Berlin ein Zeitungsreporter hinzustoßen soll, setzt taumelnd zur Landung an, vergeblich, startet neu durch, Richtung Neuengland ... Der gemütliche Vorabend gerät unter böse Vorzeichen. Manchmal muss man bereit sein, in letzter Sekunde einen Rückzieher zu machen. Für Margot Friedlander gibt es diese Option eigentlich nicht.

Anni Margot Friedlander, geborene Bendheim, kommt 1921 in Berlin zur Welt. Eine deutsche Jüdin, die das KZ Theresienstadt überlebt und 1946 in die USA emigriert, wo sie bis vor einer Woche gelebt hat. Jetzt, mit 88, will sie zurück nach Berlin.

Am Sonntag landet der Reporter dann doch in New York. „Wir sind alle kaputt“, sagt Margot Friedlander, als sie im siebten Stock die Tür öffnet. Ihr Appartement im Abbruch präsentiert sich wie eine Messiehöhle. Ein paar Möbel hat die Heilsarmee geholt. Die gute Couch passte nicht in den Fahrstuhl, wurde zersägt. Das tat weh. Im Aufzug erklärt sie Nachbarn: „I’m leaving. Forever.“ Sie steigt zum letzten Mal in ihren Honda. „Ich fahre gern Auto“, sagt sie, „es entspannt mich.“ Sie hupt häufig und telefoniert. Nebel. Tiefe Wolken. Starker Wind. In Westchester liegen Riesenbäume entwurzelt in den Gärten. Umgepustete Zäune. Straßensperren. Tiefe Pfützen. Umwege. Sackgassen. Abschiedsbesuche. Wo geht’s lang? „Ich habe den Lachs vergessen!“, ruft sie.

Im Haus von Gabi, die als Reiseagentin mal ihre Kollegin war, hängt viel klassische Moderne. Es gibt Bagel, Gurken, Kuchen, zuletzt ein Schlückchen Sekt. Drei Paare, mehr oder weniger jüdisch, wie ihre meisten Bekannten und Verwandten. Akademiker, Künstler. Herzlich distanziert. Gescheite Gespräche über Migration, Assimilation, Abu Ghraib oder Srebrenica. Und das Filmteam ist da. „Amerikaner kennen keine Grenzen, Europäer haben sie internalisiert“, sagt ein Arzt. „Als Kind habe ich realisiert, dass ich nicht deutsch fühlen kann“, sagt die in Israel geborene Hausherrin. „Margot geht zurück, aber hier ist grundsätzlich ihre Heimat – ist sie wirklich amerikanisiert?“ fragt der Künstler. „Definitely not“, sagt Margot Friedlander. „Deutsch auch nicht. Ich bin international. I am a Berliner.“ Alle versprechen ihr eine Berlin-Visite. Sie übergibt den Vertrag für ihr Grab. Man knipst sich. Zum Abschied: Ein prächtiges Foto von ihr und Max Raabe – neulich in der Carnegie Hall.

Montag ist dies irae. Sie steht im Gewühl, entscheidet den ganzen Tag lang, was für die Kartons, was für die Koffer, was für den Müll bestimmt ist. Möbel, Bücher, Kleider, Bilder, Gewusel verschwinden in klebebandumschnürten Kartons. Der Korridor füllt sich mit nummerierten Kisten, auf denen wahlweise Friedlander steht, Freidland oder der Name des Aussiedlerlagers Friedland. Nachbarn sagen goodbye. „Wollen Sie all die Bücher noch mal lesen?“, frotzeln die Packer. „Heute oder morgen“, sagt sie. Zwischendurch streckt sie sich auf dem Liegesessel aus, den die Heilsarmee vergessen hat. Stille. Das Klebeband knattert. Draußen herrscht Hundewetter. Wenn Engel emigrieren, heult das Firmament.

Die Packer erzählen, dass Israelis am häufigsten umziehen. Der Korridor, ein düsterer Transit-Schlauch, steht jetzt voll mit all dem, woran sie hängt. Einer fragt, was in der lebensgroßen Verpackung sei. Ich, sagt sie. Man solle sie doch gleich mit verschiffen. Vielleicht kehrt sie ja eines Tages zurück nach New York, um an der Seite ihres Ehemannes begraben zu werden. Die Lampe, die zurückbleibt: hatte sie so gemocht! Der Boden: war mal so schön! Es ist schon dunkel, als sie mit dem Filmteam und dem Reporter das polnische Restaurant „Just like Mother’s“ am Queens Boulevard aufsucht. Dafür hat sie sich in ein orangefarbenes Kleid geworfen. Sie kann sich nicht hängen lassen. Auch Wegwerfen fällt ihr schwer. Das halbe Schnitzel lässt sie einpacken.

Ins Hotel will sie nicht, obwohl die Wohnung fast leer ist. Sie will ihr Telefon. Sie will aufräumen. Sie hat hier 46 Jahre lang gern gewohnt, sagt sie. Der Friedhofsblick habe sie nie gestört, nur kurz nachdem 1997 ihr Mann gestorben war, „aber dann nicht mehr, man muss ja rational sein“. Anfangs haben sie zwei Jahre möbliert in Manhattan gewohnt, damals füllten ihre Kleider kaum einen Schrank. Dann zogen sie nach Queens, und nach elf Jahren hierhin, siebter Stock. Er führte für das „92nd Street Y“, ein jüdisches Kulturzentrum, die Geschäfte. Sie haben gespart, was ihnen übrig blieb. Sie hat sich ihm untergeordnet, was ihr nicht leichtfiel. Er wollte nie über früher reden. Er wollte trotz regelmäßiger Europareisen nie nach Deutschland. Und so geschah es, mit Ausnahme eines dreitägigen München-Abstechers. Die letzten zwei Jahre war er blind. „Ein guter Mann“, sagt sie.

Am Dienstag besucht sie Adolf auf dem Friedhof in Westchester. Steinchen aus Jerusalem legt sie auf die Platte. Sie hätte ihn gern in Berlin-Weißensee beerdigt, wo sein Vater ruht und ein Gedenkstein für seine in Auschwitz ermordete Mutter steht. „Aber hätte er das gewollt?“ Geboren wurde sie selbst in Berlin, wohin ihre Mutter Guschi Groß aus dem schlesischen Teschen und ihr Vater Arthur Bendheim aus Langen in Hessen gezogen waren. Sie hat Adolf nach der NS-Machtergreifung beim Jüdischen Kulturbund getroffen und eher unsympathisch gefunden. Ihre Eltern hatten sich 1937 scheiden lassen. Ihr Vater floh nach Belgien, wurde deportiert und 1942 in Auschwitz ermordet, wie zwei seiner behinderten Geschwister. Ihr Traum, Mode zu machen, erfüllt sich nicht. Ihr Bruder wird 1943 verhaftet, ihre Mutter stellt sich der Gestapo, begleitet den Bruder nach Auschwitz, wo beide sterben. Sie selbst überlebt in der Illegalität, bis sie 1944 – von sogenannten jüdischen „Greifern“ verraten – nach Theresienstadt deportiert wird. Dort trifft sie Adolf wieder. Noch im Lager, nach der Befreiung, heiraten sie. „Diese Erfahrung unterscheidet uns von allen anderen. Das ändert sich nicht. Man lebt damit mehr oder weniger gut, aber es bleibt.“

Nach Adolfs Tod hat sie im „Y“ Seniorenkurse belegt, bei denen man lernt, die eigene Geschichte zu formulieren. Der Regisseur Thomas Halaczinsky verstärkt ihr Bedürfnis, sich mitzuteilen, sich schließlich für seinen Dokumentarfilm zur Verfügung zu stellen. 2003 reist sie mit einem Besuchsprogramm des Senats erstmals wieder nach Berlin, konfrontiert sich mit den Orten ihrer Jugend. Kehrt von nun an regelmäßig dorthin zurück, wo nicht nur Schulkinder gespannt ihren Erzählungen folgen. 2005 eröffnet ihr Film „Don’t call it Heimweh“ das Jewish Film Festival. Die Weitergabe traumatischer Erlebnisse wird zur motivierenden Arbeit, zum Lebensinhalt. Mit Unterstützung einer Co-Autorin entsteht ihr Buch „Versuche, dein Leben zu machen“: Der Titel zitiert das Vermächtnis der Mutter an die Tochter, übermittelt von jener Nachbarin, bei der Guschi Bendheim zuletzt gesehen wurde.

Verzweifelte Auswanderungsversuche spielen in dieser Biografie eine große Rolle. Margot Friedlander stellt bohrende, ungestillte Fragen – an den Vater, der die Familie im Stich ließ, Emigrationspapiere nicht unterschrieb; an die Mutter, die es vorzog, ihrem Sohn Ralph beizustehen; an sich selbst, die als Zwangsarbeiterin durch Fluchtvorbereitungen die Gestapo alarmiert haben könnte; an die USA und ihre Einreiserestriktionen. Die späte Kommunikation bringt sie zurück zur Vitalität. Sie habe im Schatten ihres Mannes gestanden und sei heute völlig verändert, sagen Freunde. „Ich bin realistisch“, sagt sie. „Wenn Adolf nicht gestorben wäre, wäre das alles nicht passiert.“

Nach der vorletzten Rückkehr in die USA ist dann wohl die Entscheidung gefallen. Beim Berlin-Besuch zuvor war sie herumgereicht, gehört, unterhalten, geehrt worden. Zu Hause fällt ihr nun die Decke auf den Kopf. In New York gibt es viele Damen mit partiell ähnlicher Vita. Vereinsamt in Queens hocken, zweimal die Woche ins „Y“ zur 92. Straße fahren: Das reicht ihr nicht mehr. Ein Heim in Manhattan? Keine Lösung. Ein Berliner Freund schlägt vor, das Übersiedlungsprojekt zu testen. Für sieben Monate reist sie im Sommer 2009 an, nimmt Gastquartier in einer Seniorenanlage am KaDeWe. Mit ihrem Buch, das einen Biografie-Preis erhält, tourt sie durchs Land. Sie stürzt sich mit einer Bekannten von früher ins Kulturleben. Ihre nächtliche Kondition verblüfft. An den Weihnachtstagen gastiert sie bei prominenten Bürgern, einem Staatssekretär, einem Verleger, einem Kaufmann, einem Kulturfunktionär. Tolle Weihnachtsbäume, nette Gesellschaften, leckere Festessen. Es wird ihr nicht zu viel. Einmal verdirbt sie sich den Magen.

88-Jährige verpflanzt man nicht? Der Rückkehrplan weckt auch Irritation. New Yorker äußern unverbindliches Bedauern, bei den Berlinern artikuliert sich Skepsis: Muss so jemand zum Sterben noch mal umziehen? Ist die Enttäuschung absehbar, Margot Friedlanders Berliner Comeback also eher ein von Gutmenschen inszenierter Narzissmus? Der naive Versuch, ihr für die ermordete Familie eine Gemeinschaft zurückzugeben, die sich kümmert? Wie lange wird man ihr noch zuhören? Die Zeitzeugin erlebt, dass ihr Bericht den Jüngeren die Historie nahebringt. Aber ihr Regisseur kann ein Lied davon singen, wie genervt TV-Redaktionen auf seine Doku-Idee reagierten. Schließlich hat Halaczinsky seinem starken Film so viel rührende Romantik unterlegt (Mahler! „Tod in Venedig“!), dass der Guido-Knopp-Verdacht keimt, ohne Emotions-Doping lasse sich solcher Stoff heute, morgen kaum noch verkaufen.

Am Mittwoch ist sie in New York zur Bank gegangen, die sich außerstande sieht, ihr Guthaben zu überweisen. Sie bleibt ruhig. Telefoniert im leeren Zimmer, das Telefon steht auf Weinkartons. Die Häutung ist vollzogen. Wieder einmal trägt sie, so scheint es, ihr nacktes Leben davon. Herrliches Wetter. Friedhofsvögel tirilieren. Wenn Engel reisen, strahlt der Himmel. Auf dem doppelseitigen Medaillon, das zur Reise bereitliegt, sind Fotos von Adolf und von ihrer Mutter als Mädchen zu sehen. Auch die Krankenschwester, die ihrem Mann die Augen zugedrückt hat, kommt vorbei.

Margot Friedlander sitzt auf dem Bett und plaudert. An hohen Feiertagen seien sie zur Synagoge gegangen, sagt sie. Für sie bedeute fromm sein: gut sein. Judentum ist für sie Schicksalsgemeinschaft. Als sie sich im Berliner Untergrund durchschlug, versteckte sie ihre Identität. Sie ließ sich in einer Operation die verräterische Nase „arisieren“, trug ein Kreuz. Staatenlos – den Status hat das Dritte Reich ihr verpasst – fühlt sie sich immer noch. Ihr dominanter deutscher Akzent im Englischen hat 61 Jahre Amerika heil überstanden. Am 7. April will ihr Berlins Innensenator die Staatsbürgerschaft verleihen. Es berührt sie wenig, wenn sie davon spricht.

Am Donnerstag verabschiedet sich der durch viel Trinkgeld sehr freundlich gewordene, schwer tätowierte Hausmeister. Drei Koffer, die Tüte mit Neustadt, die Handtasche. Sie tauscht roten Kittel gegen schwarzen Hosenanzug. Drüber: Pelzjacke. Um den Hals eine Bernsteinkette ihrer Mutter, jenes einzige Erbstück, das ihr die Nachbarin am 20. Januar 1943 noch geben konnte. Der schwarze Taxifahrer bekommt Briefe zum Einstecken, bitte nicht in den jüdischen Briefkasten, in die Jackentasche. Beim Security Check passiert sie nicht den Detektor. Nach Adolfs Tod und 2005 hatte sie Herzattacken, sie hatte einen Bypass. Der Untersuchungs-Glaskasten ummauert die Migrantin wie ein Zwischenraum-Aquarium. In der Lounge vermisst sie, trotz aller Leckereien, die Cookies. Jetzt kann sie endgültig kein Gefühl mehr bei sich feststellen.

Die härteste Szene ihres Films von 2004 konfrontierte die Berlin-Besucherin mit dem Operationsbesteck für Nasenveränderung und grausigen Patientenfotos. Das Informationsgespräch lud sich auf mit Folterschrecken und Todesfurcht. Sie selbst parlierte vor laufender Kamera so kühl interessiert, als gehe diese Assoziation an ihr vorbei. Letzten Freitag dann ist ihr Flugzeug butterweich in Berlin gelandet, der Kapitale der Erinnerung und der Massenmörder, in der Hauptstadt ihrer Freunde. Angst habe sie nie gekannt, sagt Margot Friedlander. „Sonst hätte ich kaum all das tun können“. Grüblerisch sei sie nicht, sie gehe drauflos: „Ich habe nie gesagt, das geht nicht.“ Durch die Scheiben am Gepäckband sind Wartende zu sehen, der Staatssekretär, die Tischpartnerin von einem Weihnachtsessen, der Kamermann. Das schreckt sie nicht. Sie hat ein Rückfahrticket. Ging nicht anders zu buchen, sagt sie. Das soll jetzt verfallen. Sie hat sich entschlossen, zu leben. Die letzte Glastür ist blind. Was dahinter kommt, ahnen wir. Die Tür öffnet sich per Lichtschranke. Es ist neun Uhr morgens, deutsche Zeit.

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