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Drogenkriminalität in Marseille: Der Nintendo-Krieg

24 junge Männer wurden in diesem Jahr in Marseille erschossen, alle aus der Drogenszene. Der Innenminister schickte Sondertruppen in die künftige Kulturhauptstadt Europas, aber das Morden geht weiter. Besuch bei einer Mutter, deren Sohn ein Dealer ist und der Nächste sein könnte.

Tod. Söhne. Fliegen. Die drei Worte rasen durch Fatimas Kopf. Sie kauert auf einem abgewetzten Sessel im Sozialzentrum der Hochhaussiedlung Paternelle, im Norden von Marseille, wo das einzig Schöne der ewig blaue Himmel ist. Das Sozialzentrum ist ein flacher Plattenbau mit Unterrichts- und Beratungsräumen, schmucklos und der einzige Ort zwischen den zehn-, zwölfstöckigen Häusern, an dem sich die Frauen treffen können. Heute sind sie zu neunt, reden laut durcheinander, gestikulieren. Nur Fatima, 35, eine kleine, korpulente Frau in T-Shirt und Jeans und mit langen schwarzen Haaren, die sie offen trägt, ist stumm. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken, die Hände liegen regungslos in ihrem Schoß. An den Ohren und um den Hals goldglänzender Plastikschmuck.

„Wir sprechen vom Tod unserer Söhne, als ob es Fliegen wären, die sterben“, hat eine der Frauen gerade gesagt. Es ging um den jüngsten Mord an einem jungen Mann, den 23. in diesem Jahr, er kam aus der Siedlung. Dann ist die Unterhaltung der Frauen weitergeflogen. Vom Mord hin zu ihren Männern, die keine Arbeit finden.

Fatimas Gedanken aber sind hängengeblieben beim Mord. Sie hebt jetzt den Kopf ein wenig, sagt: „Ich habe Angst, dass es mein Sohn ist, der als nächster stirbt.“ Ganz leise spricht sie diesen Satz aus, und dennoch hören ihn alle. Die Frauen verstummen für einen kurzen Moment, sehen sie an, erschrocken.

Auch sie haben Angst.

Fatimas Sohn, nennen wir ihn Mourad, fing mit zwölf Jahren an, Drogen zu verkaufen. Zumindest war er so alt, als seine Mutter das erste Mal ein Stück Haschisch so groß wie eine Tafel Schokolade bei ihm fand. Mittlerweile ist er 19, er vertreibt das Zeug immer noch. Zuletzt hat die Mutter weißes Pulver in kleinen Plastikbeuteln gefunden. Und mindestens einmal in der Woche kommt er schwer verletzt nach Hause. Vor zwei Wochen war wieder mal sein Kiefer gebrochen, das rechte Auge blau und zugeschwollen.

Fatima holt ihr Handy aus der Tasche, gibt es der Frau neben ihr. Auf dem kleinen Bildschirm ist das misshandelte Gesicht eines Jungen zu erkennen, voller dunkler Flecken, der Mund schief. Der Junge redet nie. Sein Gesicht erzählt davon, was es bedeutet, ein Dealer zu sein.

Im Juni hat Fatima ihren ersten Toten gesehen. Sie kam gerade vom Einkaufen. „Es war der 13. Mord in diesem Jahr.“ Sie zählt mit. Der Junge saß hinterm Steuer seines Autos, das mitten auf einer Straße der Hochhaussiedlung Paternelle stand. Der Kopf des Mannes war von der Kopfstütze gerutscht und über den Sitz nach hinten gekippt, die Augen waren aufgerissen, das T-Shirt war voller Blut. Damals dachte Fatima das erste Mal: „Morgen könnte es mein Sohn sein.“

Seitdem wird sie die Angst nicht los.

Mittlerweile sind in diesem Jahr in Marseille 24 junge Männer im Drogenmilieu erschossen worden, fast alle mit Kalaschnikows. Keiner der bisher Ermordeten war über 30, alle kamen aus den Hochhaussiedlungen der Stadt, wo die meisten Bewohner Einwanderer sind wie Fatimas Familie, die aus Marokko stammt. Die Sozialhilfe beziehen, von denen etwa 40 Prozent keine Arbeit haben. Es ist auch die Gegend, in der die meisten Analphabeten Frankreichs leben.

„Abrechnungen“ nennt die Polizei die Morde in der Drogenszene. Rund 30 Drogenbanden soll es in der Stadt geben, jede hat ihr Revier, üblicherweise eine Hochhaussiedlung. Tote gibt es, wenn jemand die Reviergrenzen missachtet. „Das Chicago von Europa“ haben französische Zeitungen Marseille deshalb genannt, als im September mitten in der Innenstadt ein Mann auf der Terrasse eines Cafés erschossen wurde. Der Innenminister verhängte den Ausnahmezustand über die Problemviertel und schickte 205 Polizisten zur Verstärkung in die Kulturhauptstadt Europas, die Marseille 2013 sein wird. Seither ereigneten sich sechs weitere Morde.

„Das Drogen- und Gewaltproblem in Marseille ist nicht neu“, sagt Jean-Marie Allemand. „Denken Sie an den Film ,The French Connection’.“ In dem Film, der eigentlich in New York spielt, kommen die Drogen aus Marseille. Und Polizeigewerkschafter Allemand fährt fort: „Hier gab es seit den 60er Jahren Drogenbosse, die mordeten.“ Allemands Füße liegen vor ihm auf dem Schreibtisch, in seinem Mund steckt eine Marlboro, die er nicht anzündet. Er ist für die nördlichen Viertel der Stadt zuständig, für jene Gegend also, in der die meisten Hochhäuser der Stadt stehen. „Im Jahr 2000 wurde der letzte große Boss, Francis El Belge, erschossen. Seitdem machen die Jungs, die früher für die Mafiabosse gearbeitet hätten, was sie wollen.“

Allemand streicht über seinen schwarzen Schnauzer. „Jetzt haben wir hier Nintendo-Krieg. Die Jungs denken, die Welt sei ein Computerspiel, und ballern einfach drauflos.“ Er nimmt jetzt die Füße vom Schreibtisch, beugt seinen massigen Körper über den Tisch. „Diese Kinder haben keine Werte.“

Es klingt ein bisschen so, als würde er die alten Zeiten vermissen.

„Solange es die Hochhaussiedlungen gibt, werden junge Menschen sterben.“

Im Oktober wurden 16 Polizisten, die in den Vierteln im Norden Streife fuhren, wegen Korruptionsverdachts vom Dienst suspendiert, sieben von ihnen sollen mit den Drogenbanden zusammengearbeitet haben.

Dazu sagt Jean-Marie Allemand, dass Polizisten in Frankreich besser bezahlt werden müssten. Außerdem seien die Beamten total überlastet, in Paris gebe es 25 000 Polizisten, in Marseille nicht mal 3000. Und das, obwohl Marseille flächenmäßig mehr als doppelt so groß ist wie die Hauptstadt. Die neuen Polizisten, die Paris geschickt hat? Allemand winkt ab. Ein Tropfen auf dem heißen Stein. „Wir bräuchten viel mehr Personal und viel mehr Geld, um die Drogenbanden unter Kontrolle zu bekommen.“

Der stellvertretende Bürgermeister von Marseille, Didier Reault, glaubt: „Solange es die Hochhaussiedlungen gibt, werden junge Menschen sterben.“ Er sitzt in seinem großzügigen Büro im reichen Süden der Stadt. „Welche Vorbilder haben die Jungs in den Hochhaussiedlungen?“ Pause. „Die Dealer, die die neuesten Klamotten tragen, schicke Autos fahren, das Sagen haben und mit einer Waffe herumwedeln.“ Damit die Gewalt in bestimmten Vierteln aufhöre, müssten die Gettos weg, die Bevölkerung sollte sich durchmischen. „Aber so lange die Hochhäuser stehen, will doch keiner, der nicht muss, in diesen Gegenden wohnen.“

Didier Reault, Wohlstandsbauch, glatt rasierte Wangen, feiner Anzug, hat deshalb mit ein paar Stadtplanern einen Vorschlag entwickelt für die Umgestaltung einer der Hochhaussiedlungen. Er holt die Skizze aus einer Schublade. Reihenhäuser und ein Park sind zu sehen, dort, wo sich heute noch hunderte Familien in einem Gebäude drängen. „Vorübergehend werden die Familien in Notunterkünften unterkommen. Danach können ein paar zurück, in einigen Reihenhäusern wird es Sozialwohnungen geben. Die übrigen Familien müssen in andere Viertel ziehen.“ Was er nicht sagt, aber meint: in andere Hochhaussiedlungen.

Bisher sind sämtliche Sozialwohnungen von Marseille in Hochhäusern untergebracht. Der Großteil dieser Gebäude wurde nach dem Algerienkrieg in den 60er Jahren errichtet, in Windeseile, für die Franzosen, die aus der ehemaligen Kolonie fliehen mussten. Die Häuser sollten eigentlich schnell wieder abgerissen werden. Doch als die zurückgekehrten Franzosen die Wohntürme verließen, strömten Einwanderer aus Algerien, Marokko, dem Senegal nach. Die Wohnungen waren günstig, viele vom Staat bezuschusst. Die Immigranten wohnen dort noch heute.

Fatima kam mit Mourad vor zehn Jahren aus Marokko. Auch sie zog in eines der Hochhäuser, zu ihrem neuen marokkanischen Mann mit französischem Pass. Ihre fünf Schwestern, die seit Jahren in Frankreich lebten, hatten die Ehe arrangiert. Von ihrem ersten Mann hatte Fatima sich scheiden lassen, „weil er trank und prügelte“, in Marokko wollte sie, die Geschiedene, keiner mehr. Nach kurzer Zeit in Marseille stellte sich allerdings heraus: Auch ihr neuer Mann trank zu viel. Und er arbeitete nicht. Fatima bekam zwei Kinder von ihm.

Ihr Sohn Mourad, beim Umzug nach Marseille neun Jahre alt, war vom ersten Tag an nur selten zu Hause. „Ich habe mir keine Gedanken gemacht. Für mich gab es keinen Zweifel: Er spielt mit den anderen Kindern. In unserem Dorf in Marokko hat er das schließlich auch immer gemacht“, erzählt Fatima. Sie hat jetzt ihren Mantel angezogen, im Sozialzentrum gibt es keine Heizung, und die anderen Frauen, die den Raum gewärmt haben, sind fort.

Erst als sie das Haschisch in der Jackentasche ihres Ältesten entdeckte, begann sie sich um ihn zu sorgen. „Von wem hast du das Zeug?“, wollte sie wissen. Mourad schwieg, und sie brachte ihn zur Polizei. Das Haschisch in der Hand, sagte sie zu den Beamten: „Mein Sohn ist zwölf! Behalten Sie ihn da, bis Sie herausfinden, wer ihm das gegeben hat.“ Der wachhabende Polizist zuckte mit den Schultern, erinnert sich Fatima, und wandte sich Mourad zu. „Willst du uns erzählen, woher du die Platte hast?“, fragte er. Mourad schwieg. „Dann müssen Sie ihn wieder mitnehmen“, sagte der Polizist zu Fatima. „Wir dürfen ihn nicht dabehalten, er ist zu jung.“ Dann erklärte er ihr, dass die Drogenbanden vor allem die ganz Kleinen rekrutierten, weil die noch lange straffrei blieben und die Polizei ihnen nichts anhaben könne, wenn sie mit Drogen erwischt würden.

„Ich empfand Ohnmacht. Wenn die Polizei mir nicht helfen wollte, wer dann?“ Diese Ohnmacht empfand sie noch oft. Als ihr Sohn mit teurem Spielzeug für die kleinen Geschwister kam, das sie sich niemals hätte leisten können, und die sich so freuten, dass sie ihnen die Sachen unmöglich wieder wegnehmen konnten. Als er ihr Schmuck aus echtem Gold mitbrachte, sie das Geschenk ablehnte, weil sie nichts mit Drogen zu tun haben wollte, und ihr Sohn nur lachte und sagte: „Dann trag doch deinen Plastikschmuck.“ Als sie ihn auf ein Internat schickte und er nach ein paar Wochen rausgeworfen wurde, weil er auf dem Schulhof Drogen verkauft hatte. Als sie sah, wie ein älterer Junge ihrem Sohn, Mourad war 15, ein Paket zusteckte, sagte: „Ich werde den Jungen anzeigen“, und der Sohn leise antwortete: „Wenn du das tust, sind wir beide tot.“ Oder als er mit 16 ohne Abschluss von der Schule ging und sich keine Arbeit und keine Ausbildung suchte. Aus dem Kind ist ein junger Mann geworden, der nicht mehr straffrei ist.

Mourads Tag beginnt heute um sechs Uhr abends. Nur nachts verlässt er das Haus, und wenn er frühmorgens zurückkehrt, ist er betrunken. Manchmal bringt er Freunde mit, und sie sehen fern, so laut, dass alle wach werden. Die Tochter und der Sohn, heute fünf und sieben, schlafen bei Fatima im Bett. Sie hat nicht nur Angst um ihren Sohn, sondern auch vor ihm.

Bei den kleinen Kindern will Fatima jetzt alles richtig machen. Von ihrem zweiten Mann hat sie sich getrennt, einen neuen will sie nicht. Sie will jetzt arbeiten, gerade macht sie eine Fortbildung, um in einem Altenheim Beschäftigung zu finden. Noch bezahlt der Staat ihre Wohnung und für die beiden Kleinen, insgesamt fast 800 Euro. Am liebsten würde sie in eine Gegend ohne Hochhäuser ziehen, doch sie hat in den besseren Vierteln bisher keine Wohnung gefunden, die sie sich leisten könnte. Solange sie in der Siedlung lebt, lässt sie ihre kleinen Kinder nicht alleine aus dem Haus. „Erst, wenn sie 18 sind, dürfen sie raus. Ich sehe hier Achtjährige, die für die Dealer arbeiten!“ Jeden Mittwochnachmittag, wenn in Frankreich, wo Ganztagsunterricht üblich ist, schulfrei ist, bringt sie ihre Tochter zum Tanzunterricht, den Sohn zum Fußball.

Vor kurzem hat Fatima ihren Ältesten wieder einmal gebeten, sich eine Arbeit zu suchen oder eine Ausbildung. Mourad antwortete: „Mama, ich habe nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder ich sterbe oder ich gehe ins Gefängnis.“

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