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Politik: Düstere Warnung

US-Entwicklungsagentur warnt: Nato verliert Kontrolle über Afghanistan, Bürger glauben nicht an Erfolg

Die Lage in Afghanistan hat sich im Laufe des Jahres 2006 dramatisch verschlechtert, westliche Aufbauhelfer und Nato-Truppen laufen Gefahr, die Kontrolle über die Entwicklung in diesem Jahr völlig zu verlieren. Dies ist das Ergebnis einer detaillierten Studie der US-Agentur für Entwicklungshilfe (US- Aid), die jetzt in Washington vorgestellt wurde. Die Autoren sind Rick Barton und Seema Patel vom PCR-Project (Prevention, Conflict analysis and Reconstruction), das für die US-Regierung die zivile Seite staatlicher Wiederaufbauhilfe untersucht. Wie bereits 2005 hatten sie tausend Bürger interviewt, 13 Meinungsumfragen und 70 afghanische Medien systematisch ausgewertet sowie mit 200 Experten gesprochen.

Bis 2005 war die Entwicklung in Afghanistan positiv, Schwächen gab es allerdings bereits im regionalen Ansatz, die Hilfe konzentrierte sich auf die Zentralregierung in Kabul, die jedoch kaum Macht über die Provinzen hat. 2006 ist die Gesamtbewertung in allen fünf Unterbereichen – Sicherheit, Regieren und politische Teilhabe, Justiz und Verantwortung von Mandatsträgern, wirtschaftliche Entwicklung sowie Soziales und Infrastruktur – in die „Gefahrenzone“ abgerutscht. 2005 galt die Lage noch als „lebensfähig“ oder „mit Risiken behaftet“.

Hauptgründe sind die zunehmenden Anschläge in allen Landesteilen und die Rückkehr der Taliban im Südosten nahe der Grenze zu Pakistan. In wenigen Wochen wird deren Frühjahrsoffensive erwartet. „Wenn es ihnen gelingt, die Provinzen Helmand und Kandahar in Brand zu setzen, gibt es keine Rettung mehr“, warnt Barton. Er teile die düstere Einschätzung des US-Kommandeurs, General Eickenberry, der kürzlich gesagt hat: „Wir sind nahe an einem Punkt, wo die Regierung in Kabul irrelevant wird für Afghanistans Bürger und wir die Chance für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft für immer verlieren.“ Die Nato ist in Afghanistan nur mit gut 30 000 Mann präsent, etwa so viel wie bei der Befriedung Kosovos, doch ist Afghanistan 65 Mal so groß. Amerikaner, Briten, Deutsche schicken nun zwar einige hundert bis wenige tausend neue Soldaten, aber nicht genug, um den Angriffen flächendeckend entgegenzutreten.

Afghanen leben heute weniger sicher als 2005, besagt die Studie. Zwar wurde mehr Polizei und Armee ausgebildet, aber die Probleme mit Rekrutierung, Korruption und fehlender Kontrolle sind groß. Um den Bürgern den Glauben an staatlichen Schutz zu geben – und die Sicherheitskräfte dazu zu bringen, gegen Angreifer zu kämpfen –, müsste Verlass darauf sein, dass „in 15 Minuten Hilfe eintritt“. Derzeit sei die Reaktionszeit auf Angriffe drei Stunden. Um das zu erreichen, müsste zum Beispiel die Zahl der Einsatzhubschrauber von 36 auf gut hundert verdreifacht werden.

Bei der Aufbauhilfe kamen die kritischen Provinzen bisher zu kurz. So fehlt der Nato die Unterstützung der Bevölkerung gerade dort, wo sie sie am dringendsten bräuchte. Der Vorschlag: 50 Prozent der Hilfe sollen von der Zentralregierung abgezogen werden und direkt in die Provinzen fließen. Das Vertrauen der Bürger in die Regierung Karsai ist 2006 deutlich zurückgegangen. Das Justizsystem ist korrupt, kriminelle Banden kommen ungeschoren davon, Korruption von Staatsdienern bleibt unbestraft.

Die Wirtschaft verzeichnet zwar ein hohes Wachstum, immer mehr Geschäfte öffnen, aber das führt bisher nicht zu Arbeitsmöglichkeiten für den Durchschnittsafghanen. Die meisten Familien kämpfen ums tägliche Essen. Die Bekämpfung des Drogenanbaus und die Polizeiausbildung gelten als weitgehender Misserfolg. „Wenn wir nicht rasch eine Trendwende schaffen, gilt in Afghanistan nur noch Darwins law“, schließt Barton: das Recht des Stärkeren.

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