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Eine Taube und ein Revolutionsführer. Die Leninstatue in Slowjansk hat die Wirren in der Ukraine überlebt.

© Reuters

Ehemalige Separatistenhochburg Slowjansk: Unter Lenins wachsamen Augen

Lange war das ostukrainische Slowjansk eine Hochburg der Separatisten. Heute versuchen die Bewohner einen Neuanfang. Viele fühlen ukrainisch - aber ebenso viele russisch.

Eisiger Wind fegt über den Platz. Doch der Besitzer der grünen Kinderautos lässt sich ebenso wenig abschrecken wie der Mann mit dem Pony. Wie jeden Sonntag führen die Eltern ihre Kinder zu diesen kleinen Attraktionen im Zentrum der ostukrainischen Stadt Slowjansk.

Vor der Leninstatue und dem grauen Rathaus, das im April 2014 nach der Besetzung durch Separatisten wochenlang die Welt bewegt hat, stehen ukrainische Aktivisten mit Transparenten und hellblau-gelben wie rot-schwarzen Flaggen um eine schlichte Holzbühne. Davor wird heftig gestritten. Ein Mann in blauer Windjacke beklagt sich über einen neuen Direktor, den der Bürgermeister seinem Kollektiv vor die Nase gesetzt hätte. „Es ist alles wie früher; die Macht entscheidet, wir haben nichts zu sagen.“ Umstehende werfen ihm indes vor, im Sommer auf den Barrikaden der Separatisten gestanden zu haben. „Schande!“, dröhnt es aus der Menge.

Das basisdemokratische Stelldichein der rund zweihundert Bürger lässt die Verkäuferin am nahen Kiosk kalt. Jeden Sonntag würden ukrainische Flaggenträger vor der Leninstatue herumschreien, sie wisse gar nicht, was die wollten, sagt die ältere Frau. Die jüngste Verdreifachung der Gaspreise und baldige Strompreiserhöhungen beschäftigen sie. Frieden sei doch das Wichtigste, alles andere zähle heute nicht, findet sie.

„Zum Glück ist hier wieder die Ukraine!“, widerspricht ein junger Familienvater und schildert die Schreckensherrschaft der Separatisten. Sie hätten die eigene Bevölkerung mit Granatwerfern beschossen, um danach zu behaupten, das sei die ukrainische Armee gewesen, erzählt der Mann. Auch er hoffe auf Frieden, sagt er, doch ihm ist nicht egal, auf welcher Seite sich künftig Slowjansk befinde. Obwohl die heutige Frontlinie rund 60 Kilometer südlich der hübsch zwischen Hügeln und Seen gelegenen 120 000-Einwohnerstadt verläuft, fühlt er sich alles andere als sicher. Vor etwas über einem Monat hatten die prorussischen Kämpfer die Nachbarstadt Kramatorsk bombardiert. Dort befindet sich seit der Rückeroberung durch die ukrainische Armee im Spätsommer das Hauptquartier der Streitkräfte. Mehr als ein Dutzend Menschen wurden damals getötet, rund 70 Personen durch Bombensplitter verletzt. „Spätestens seither leben wir alle auf gepackten Koffern“, sagt der Familienvater in der schwarzen Lederjacke.

Dem neuen Minsker Friedensvertrag trauen die Menschen ebenso wenig wie den Separatisten und ihren Volksrepubliken, die rund 75 Kilometer südöstlich von Slowjansk gleich hinter der wochenlang umkämpften Kleinstadt Debalzewe zusammentreffen.

Nicht alle lassen sich von der Angst anstecken

Oleg Santow, der Bürgermeister und ehemals einzige Oppositionelle im Stadtparlament, will sich im kurzen Gespräch nicht von der Angst anstecken lassen. „Teil des russischen Hybridkrieges gegen die Ukraine ist auch die psychologische Destabilisierung“, erklärt Denis Bigunow. Seit der Rückeroberung der Stadt hat der junge Beamte durchschnittlich jeden Monat etwas gezählt, was er als „Panikattacke auf Slowjansk“ bezeichnet. Ehemalige Stadtbürger, die sich mit den Separatisten in die „Volksrepubliken“ zurückgezogen hätten, würden unter ihren Verwandten bewusst Warnungen vor angeblich bevorstehenden Raketen- oder anderen Angriffen streuen. „Das Rathaus bekommt Hunderte von besorgten Anrufen“, berichtet Bigunow. Immer wieder müsse er im Lokalfernsehen auftreten und die Bürger beruhigen.

Auf die ukrainische Armee zählen nur noch wenige. Ein patriotisch gesinnter Passant vor der Leninstatue wünscht sich für den Fall eines neuen Angriffs die Bewaffnung der Bevölkerung. Eine Umfrage des Kiewer Instituts für Demokratische Initiativen hat indes ergeben, dass Ende 2014 in Slowjansk und Kramatorsk nur 30 Prozent der Bevölkerung klar proukrainisch eingestellt waren. Ebenso viele gaben prorussische oder prosowjetische Einstellungen an. Jeder Dritte von ihnen bezeichnete sich als Anhänger der „Volksrepublik Donezk“. Die Mehrheit (40 Prozent) gab an, ihr sei egal, ob Slowjansk ukrainisch oder russisch sei.

Gegenüber den teilweise schwer zerstörten Straßenzügen von Slowjansk sieht die 40 Kilometer entfernte Frontstadt Artemowsk fast paradiesisch aus. Mobilfunkläden, Banken und Cafés haben sich in schönen alten Bürgerhäusern am zentralen Platz eingemietet. Auch hier wartet ein gutmütiges Pony vor dem Rathaus im grauen, klobigen Sowjetstil auf die Kinder.

Bürgermeister Aleksej Rewa empfängt den ausländischen Gast mit dem festen Händedruck eines verdienten Apparatschiks. Ein Vierteljahrhundert hat er die nach einem kommunistischen Revolutionshelden benannte 75 000-Einwohnerstadt am Rand des Kohlebeckens durch die Fährnisse der ukrainischen Politik geführt. Jahrelang war Rewa in der „Partei der Regionen“ des vor Jahresfrist nach Russland geflohenen Staatspräsidenten Janukowitsch. Seit April jedoch sei er ein Unabhängiger, sagt der Bürgermeister.

Damals nahmen die Separatisten seine Stadt ein, doch Rewa konnte im Amt bleiben. Nun ist die Stadt wieder in der Ukraine. Natürlich sei die Stimmung unter der Bevölkerung seit dem Fall der nahen Stadt Debalzewe angespannt, berichtet Rewa, doch Panik herrsche keine. „Alle wollen nur Frieden und Arbeit“, sagt der Stadtpatron dann und erläutert sogleich ungefragt, dass alle Stadtbetriebe, Schulen und Krankenhäuser noch funktionieren würden. „Wir hoffen, dass es hier friedlich bleibt“, sagt Rewa. Er jedenfalls sitze nicht auf gepackten Koffern. „Ich arbeite hier, meine Kinder arbeiten hier“, sagt er.

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