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So berichtete die Thüringer Allgemeine Zeitung über den Fall der drei indischen Studenten, die in einem Park in Jena von Neonazis angegriffen wurden.

© thueringer-allgemeine.de

Rassistischer Übergriff: Ein Blitzkrieg aus Schlägen und Tritten

Es ist die Geschichte eines rassistischen Übergriffs auf drei indische Studenten in Jena. Einer von ihnen bezog in dem Onlinejournal elbpolitico.com Stellung. Wir dokumentieren seinen Text.

Jena, im Sommer 2015: Rahul Kumar, ein indischer Student, genießt mit zwei Freunden ein Bier im Park. Plötzlich wird das Trio von einer Gruppe Neonazis attackiert, ein Angriff, der nicht nur äußerlich verletzt, sondern auch tiefe psychologische Wunden hinterlässt. Von der Polizei und anderen Institutionen fühlte sich Kumar nicht unterstützt und vertraute auf die Arbeit von NGOs. In einem Artikel des Onlinejournals elbpolitico.com beschreibt Rahul Kumar den Tag, der sein Bild von Deutschland für immer beschädigt hat. Die Thüringer Allgemeine hatte über den Fall berichtet. Wir danken elbpolitico.com dafür, dass wir die deutsche Übersetzung des ursprünglich englischsprachigen Beitrags hier dokumentieren dürfen.

Zusammen mit zwei Freunden aus Südindien hat es mich für mein Masterstudium an die Ernst-Abbe-Hochschule in Jena gezogen. Wir lieben Jena und haben hier Freunde aus Indien und der ganzen Welt gefunden. Immer wenn ich Geschichten aus anderen ostdeutschen Städten wie Dresden hörte, schüttelte ich den Kopf: In Jena fühlte ich mich willkommen und sicher. Zwar habe ich zahlreiche weitere Städte in Deutschland besucht, doch allein Jena war mein geliebtes „Zuhause in der Ferne“.

Deutschland – ein neues Zuhause

Bevor ich jemals einen Fuß auf deutschen Boden gesetzt hatte, dachte ich beim Wort Deutschland an zwei Dinge: Erstens: Autos. Als Maschinenbauer war Deutschland mit seiner Automobilindustrie ein Traumziel für mich. Und zweitens, nun ja, die scheußliche, berüchtigte deutsche Geschichte, über die ich in der Schule so viel Trauriges erfahren hatte. Natürlich beunruhigte mich dies, doch alle Ängste waren verflogen, als ich hier landete und schnell Freunde fand. Ich verliebte mich so sehr in Deutschland, dass ich es vermisste, als ich zum Urlaub in die Heimat flog, und dass ich meiner Familie und allen Bekannten von Deutschland vorschwärmte. Die Bratwürste, Volkswagen, BMWs, die Begeisterung für Fußball, und die vielen offenen Leute.

Leider musste ich gelegentlich auch Beleidigungen hinnehmen. Nicht nur ich, auch die meisten meiner Freunde wurden zu verschiedensten Gelegenheiten Zeugen von Rassismus. Das war relativ alltäglich, und ich habe schnell gelernt, solche Bemerkungen zu ignorieren, so wie es wohl jeder Mensch im Ausland manchmal tun muss. Viel wichtiger war mir, dass die Menschen uns, noch viel mehr als mit rassistischen Bemerkungen, mit Komplimenten überhäuften, zu unserem exotischen Essen, und was wir für ein geselliger, spaßiger Haufen wir indischen Studenten doch waren. Ich wiederhole mich: Ich liebe dieses Land, und seine großzügigen Einwohner.

Ein normaler Abend…

Am Abend des 15. Juni 2015 hat Vijay, ein Freund von mir, die Stadt besucht. Wie immer verabredeten wir uns auf einen gemütlichen Abend mit Kochen und ein paar Bier. Wir kauften ein paar Zutaten und Bier im Supermarkt, und Sanjay, ein weiterer Freund aus Indien, schloss sich uns an. Die Nacht war jung, gegen Mitternacht gingen wir in den nahegelegenen Park, um vor der nächtlichen Kochaktion noch ein Bierchen zu genießen. Sanjay und ich saßen auf einer Bank und lachten über Vijays fabelhaft komische Anekdoten, während wir auf die Tram nach Hause warteten.

Ein paar Schritte weiter bemerkten wir eine Gruppe von zehn, fünfzehn Jugendlichen, alle betrunken und ziemlich verhaltensauffällig – bis dahin eine relativ normale Situation. Ansonsten war der Park ungewöhnlich leer. Ein paar Minuten später kamen uns drei Jugendliche aus der Gruppe näher, machten vor Vijay Halt und provozierten ihn: „Was guckst du?“. Vijay war zwar geschockt, bewahrte aber Fassung, überzeugte die drei, dass wir die Gruppe nicht angestarrt hatten, und entschuldigte sich für das Missverständnis. Um die Situation zu beruhigen, prostete er als Freundschaftsgeste den Jungs zu.

… wird zum Albtraum

Vollkommen unerwartet schlug einer der drei, ich werde ihn aufgrund seiner Statur ab jetzt “Fettsack” nennen, Vijay die Flasche aus der Hand, schubste ihn vor sich her und beleidigte uns alle mit rassistischen Bemerkungen. Dabei forderte er, dass wir den Park und das Land unverzüglich verlassen sollten. Plötzlich zielte einer mit einer Bierflasche direkt auf Vijays Gesicht, was er gerade noch rechtzeitig mit dem Ellbogen abwehren konnte. Ich wurde wütend, stand auf, um Vijay von den Idioten wegzuziehen. Eine Jugendliche, die mit den anderen unterwegs war, beteiligte sich am Krawall und schimpfte irgendwelche rassistischen Parolen vor sich her. Was dann passierte, ging extrem schnell. Drei oder vier schlugen Vijay und mich, und machten dabei nur Halt, um sicherzugehen, dass wir den Hitlergruß, den sie stolz und anmutig zeigten, sahen. Während der ganzen Schlägerei pöbelten sie unentwegt: „Heil Hitler“, „Fuck you, Niggers“, und „Raus aus unserem Land!“.

Eine Politik, die sich insbesondere in den neuen Bundesländern nicht klar genug von Rechtsextremismus abgegrenzt hat. [...] Und die Konsequenz? Eine Gesellschaft, in der in Teilen Ausländerhass normal und akzeptiert ist, in der in Teilen Gewalt als legitimes politisches Mittel gesehen wird

schreibt NutzerIn JonathanOld

Als die Attacke stoppte, stammelte uns Sanjay zu, dass wir den Ort so schnell wie möglich verlassen sollten. Ich schnappte mir meine Tasche und sah nach Vijay, als drei Männer aus der Gruppe unsere Schienbeine traten und uns damit bewegungsunfähig machten. Ich versuchte, aufzustehen, als der Fettsack auf mich zu rannte, sich von hinten auf mich warf, meinen Hals mit seinem riesigen Ellbogen umfasste, und mit aller Kraft meinen Kopf auf die Straße rammte. Mein Kiefer gab sofort nach. Der Fettsack stand auf und kickte Sanjay, dessen Knie noch heute ramponiert ist. Gleichzeitig schleiften mich die anderen ein Stück weiter, und Vijay wurde von einem Tritt so hart getroffen, dass er für ein paar Momente ohnmächtig wurde.

„Tut mir leid“, stammelte ich heraus

Meine nächste Erinnerung ist, dass vier Gangmitglieder mich vor dem Supermarkt einkreisten, und ich sie anflehte, aufzuhören. „Tut mir leid“, stammelte ich heraus, und was folgte, war ein weiterer Blitzkrieg aus Schlägen und Tritten. Meine Brille wurde irgendwann in dem ganzen Gemenge zertreten. Halbblind und –stumm (Danke an den Kieferbrecher!) konnte ich meine Freunde nicht finden oder rufen. Ich schaffte es, aufzustehen und kroch in die Richtung der Tramhaltestelle, wo ich Sanjay vorfand, dessen Zustand nicht wesentlich besser war. Als ich versuchte, herauszufinden, wo Vijay war, kamen drei der Angreifer nochmal zu uns, um einen Hitlergruß, gefolgt von einem „Heil Hitler“ zu zeigen.

Endlich ließen sie uns allein. Ich sah, wie Vijay uns entgegenkam, er hatte kurz zuvor die Polizei gerufen. Nach den längsten 15 Minuten meines Lebens kamen zwei Polizeibeamte auf uns zu, die nichts Besseres zu tun hatten, als unsere Visadetails zu überprüfen, Bilder zu machen und uns der Reihe nach in einen Alkoholtester pusten zu lassen. Sanjay und Vijay, die beide recht gut Deutsch sprechen, erklärten den Beamten, was passiert war, doch diese beachteten uns kaum, obwohl wir ebenfalls einen Hitlergruß machten, um zu verdeutlichen, welcher Natur der Angriff gewesen war. Doch die Polizisten hätten nicht weniger apathisch oder desinteressiert sein können. Ein paar Momente später kam ein Krankenwagen, und die Ärzte nahmen uns ins nächste Krankenhaus mit, um uns besser zu pflegen.

Einer der Beamten bemerkte die Gang, die immer noch ein paar Meter weiter stand, holte Verstärkung, und überprüfte die Jugendlichen. Vijay wurde darum gebeten, die Angreifer zu identifizieren, wir anderen wurden nicht gefragt. Einer der neu hinzugekommenen Polizisten befragte die Gruppe und informierte uns, dass die Gang uns nicht angegriffen hatte. Was für eine Farce! Vijay erklärte, dass die Angreifer zu der Gruppe gehört hatten… Naja, wir wurden ins Krankenhaus eingewiesen, und die Polizei bat uns, am nächsten Tag mit unseren Befunden auf die Polizeistation zu kommen. Vijay und Sanjay wurden äußere Verletzungen diagnostiziert, während mein rechter Kiefer gebrochen war.

Passive Polizei

Am nächsten Tag gingen Sanjay und ich zur nächsten Polizeistation, um Anzeige zu erstatten. Zu meiner tiefen Enttäuschung trafen wir erneut nur auf taube Ohren, obwohl wir den Horror des vorigen Tages detailliert beschrieben. Ich verstehe immer noch nicht, warum die Polizei sich nicht für unseren Fall interessiert hat, warum unsere Sicherheit und Gerechtigkeit weniger wert ist als die anderer. Für eine Operation musste ich am nächsten Tag erneut ins Krankenhaus. Aus Schmerz wurde Wut, und desillusioniert vom passiven Verhalten der Polizei beschloss ich, unsere Geschichte publik zu machen.

Unsere Universität, die FH Jena, kontaktierte die Organisation EZRA (Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, Anmerkung der Redaktion), die Rassismusopfern hilft. EZRA war uns durchgehend eine immense Hilfe. Weil die Medien konsequent nachfragten und kritisierten, sah sich die Polizei irgendwann doch gezwungen, zu ermitteln und die Verdächtigen zu fassen. Schließlich trafen wir auch Thüringens Innenminister – obwohl wir uns ein bisschen unterhielten, fühlten wir uns nicht wirklich ernstgenommen. Doch sind wir froh, dass die Gewaltverbrecher gefasst wurden und ihre Taten gestanden haben. Bevor sie ihre gerechte Strafe erhalten, wird wohl noch ein langer Prozess folgen.

Und jetzt?

Körperlich geht es bei mir aufwärts, doch mental bin ich am Boden. Seit dem rassistischen Angriff erlebe ich eine Paranoia, die dich davor nicht kannte. Die meiste Zeit habe ich Angst, mein Zimmer zu verlassen, wenn jemand an die Tür klopft, schrecke ich angstvoll hoch. Mein gebrochener Kiefer, meine Ernährung – Babybrei – und einige unangenehme Nebenwirkungen der Operation machen mir zu schaffen, und verhindern, dass ich mich körperlich betätigen kann. Meine finanzielle Situation verschlimmert sich von Woche zu Woche. Gott sei Dank bleiben die Ereignisse im Gedächtnis der Stadt Jena.

Die Anti-Nazi-Demonstration am 27. Juni war ein wunderbarer Beweis für die Willkommenskultur und die Güte der Menschen in Jena. Wie überall sonst ist die Mehrheit der Menschen besser als die Rassisten. Unterstützung von Fremden aus ganz Ostdeutschland haben mir mehr geholfen als die Schmerzmittel, unter denen ich lange Zeit stand.

Um mich besser zu erholen und die schweren Tage zu überwinden, werde ich bald Abschied nehmen. Abschied, von einem Ort, der mir wichtig und lieb ist, einem Ort, den ich Zuhause nenne. Ich hoffe, dass ich die freundlichen Menschen, die vertrauten Straßen, und meine wunderbaren Freunde bald wieder treffe. Und ich wünsche mir von meinem ganzen Herzen, dass das Übel des Rassismus schnell ausgerottet wird, denn es beschmutzt die große Nation Deutschland. Bis bald!

Anmerkung: Weil das Gerichtsverfahren noch andauert, wurden alle Namen zum Schutz der Sicherheit und Privatsphäre geändert. Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Jonathan Old, Chefredakteur von elbpolitico.com.

Rahul Kumar

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