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Politik: Ein gespaltenes Volk

Die Abstimmung zur Nationalversammlung zeigt die tiefen Gräben zwischen Sunniten und Schiiten

Bagdad - Schwerfällig erwachte die Hauptstadt des Irak am Montagmorgen aus der Lähmung der massiven Sicherheitsmaßnahmen, die ihr wegen der Wahlen am Vortag auferlegt worden waren. Nur wenige Autos waren nach dem Fahrverbot am Wahltag auf den Straßen zu sehen, Geschäfte und Restaurants blieben geschlossen. Auch die Brücken über den Tigris, der durch die Stadt fließt, blieben für den Verkehr gesperrt. Die Übergangsregierung hatte ohnehin die Zeit bis einschließlich Montag zum arbeitsfreien Feiertag erklärt, Schulen und Universitäten haben noch bis zum Samstag verlängerte Semesterferien.

Unter den Bürgern der Stadt herrschte Erleichterung, dass der Wahltag ohne große Anschläge über die Bühne gegangen war. „Vielleicht ist dieser Albtraum jetzt überhaupt zu Ende“, hofft ein Geschäftsbesitzer im Viertel Karrade. Auch der Zeitungsherausgeber Ismail Sajer, der auf der Liste des Übergangspräsidenten Ghasi al Jawar kandidierte, glaubt, dass nun der Bann gebrochen ist. „Dass so viele Menschen wählen gingen, bedeutet doch, dass sie sich von den Terroristen nicht mehr einschüchtern lassen.“ Tatsächlich erforderte die Stimmabgabe am Sonntag Mut: Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln töteten im Umkreis der streng bewachten Wahllokale immer noch mehr als 30 Menschen. „Die Lokomotive der Demokratie ist abgefahren, und zwar in die richtige Richtung“, sagt Sajer trotzdem.

Doch die Wahlbeteiligung entlang ethnischer und konfessioneller Linien, wie sie sich abzeichnet, wirft einen Schatten auf den Ablauf der Wahl. So feierten Schiiten und Kurden auf der einen Seite den Urnengang als letzten Abgesang auf die Diktatur von Saddam Hussein, unter der sie schwer gelitten hatten. Auf der anderen Seite aber wurde er von den Sunniten weitgehend boykottiert, weil sie keine Wahl unter US-Besetzung akzeptieren wollen. „Die Gräben in der Gesellschaft sind so markant und tief, dass diese Wahlen, anstatt die Menschen zueinander zu bringen, sie sehr wohl auseinander reißen könnten“, warnte das US-Meinungsforschungsinstitut Zogby. In der neuesten Umfrage des Instituts hatten 53 Prozent der befragten Sunniten angegeben, dass sie Angriffe auf die fremden Truppen für rechtens erachten. Ein Nachlassen der Aufstands- und Terroraktivitäten lässt dies nicht erwarten.

Auch die einflussreiche sunnitische Vereinigung Islamischer Rechtsgelehrter (AMS), die zum Wahlboykott aufgerufen hatte, sieht im sonntägigen Urnengang „keine Lösung für das irakische Problem“. Dieses bestehe nicht in einem inneren Konflikt, der über Verhandlungen und Wahlen zu lösen wäre, sagte der AMS-Vertreter Mohammed al Kubaisi im arabischen Sender Al Dschasira. „Das Problem ist die Anwesenheit fremder Truppen, die dieses Land besetzen und nicht einmal bereit sind, zumindest einen Zeitplan für ihren Abzug anzugeben.“

Die künftige Regierung wird also nicht nur daran gemessen werden, ob sie der Bevölkerung endlich Wasser, Strom und Benzin geben kann. Hinzu kommt, dass auch der überwiegende Teil der Schiiten einen Abzug der US-Truppen wünscht. „Wir wählen die Amerikaner aus dem Land“, hatten viele Iraker bei der Stimmabgabe gerufen, und so war es ihnen auch versprochen worden. Wird dieses Versprechen enttäuscht, könnte es zu einem Schulterschluss zwischen radikalen Schiiten und militanten Sunniten kommen. Für die Amerikaner wäre das ein wahrer Albtraum.

Gregor Mayer (dpa)

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