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Hannelore Börgel in einem Bergdorf in einer östlichen Provinz Afghanistans. Das Gesicht ihres afghanischen Begleiters wurde abgedeckt, um ihn nicht zu gefährden. Denn in der Region sind Taliban unterwegs.

© Börgel

Lage in Afghanistan: Ein Kampf um jeden Fortschritt

Nicht die Entwicklungspolitik hat in Afghanistan versagt – die Politiker haben es. Weil sie Eile angemahnt haben. Ein Essay.

Nach dem Teilabzug der Isaf-Truppen 2014 hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan so entwickelt, wie es von allen, die seit Jahren mit dem Land zu tun haben, vorhergesagt wurde. Fast täglich gehen Bomben hoch, sind Selbstmordattentäter unterwegs, sterben Unschuldige. Die Politiker haben sich die Situation schöngeredet, um die ausländischen Soldaten dort abziehen zu können, auch um innenpolitische Debatten zu beenden. Eigentlich sollte es ja ein Vollabzug werden. Aber als absehbar war, dass alles, wofür man eigentlich seit 2001 gekämpft hatte, womöglich durch Taliban und erstarkte Warlords zunichtegemacht werden würde, beschlossen die USA, immerhin 8400 Soldaten im Land zu lassen, und Deutschland will mit fast 900 Soldaten die Ausbildung unterstützen.
Damit wird auf der politischen Ebene das Versagen ein wenig kaschiert. Ergebnis: In Europa steigen die Flüchtlingszahlen aus Afghanistan. In Kabul verdienen Schlepper Geld mit potenziellen Flüchtlingen. Und als Deutschland zum Gelobten Land für Flüchtlinge aus den Krisenregionen des Nahen Osten und Afghanistan wird, erklärt die deutsche Regierung Afghanistan schnell zum sicheren Herkunftsland. Zynischer geht es nicht. Wieder hält man sich am schwächsten Land, das weiter weg ist als der Nahe Osten, schadlos.

Selbstgezüchtete Pilze aus den Dörfern werden für die Pizzaproduktion genommen

War alles vergebens? Nein! Die vorerst letzte Reise habe ich im März/April 2016 nach Afghanistan gemacht. Unter erschwerten Sicherheitsbedingungen bin ich durch vier afghanische Provinzen gefahren, um Entwicklungsprojekte einer Nichtregierungsorganisation zu evaluieren, die in den vergangenen Jahren mit deutschen Steuergeldern und mit Spenden finanziert worden sind. Die Dorfbewohner müssen zehn Prozent beisteuern, zumeist mit eigenen Hilfsarbeiten. Errichtet worden sind Schulen, Bewässerungskanäle, Schutzwälle gegen Sturzfluten, die sonst die Felder zerstören. Die Frauen sind in entlegenen Dörfern als eigenständige Produzentinnen in die Entwicklungsprogramme einbezogen worden. In einigen Dörfern im Südosten des Landes können Frauen zum Teil ihre Gehöfte nicht verlassen, weil es die Tradition einiger Clans so will. Aber sie produzieren innerhalb der Gehöfte in ihren Hausgärten Gemüse und ziehen Pilze in dunklen Räumen ihrer Häuser heran. Vermarktet werden diese Produkte über die männlichen Mitglieder der Großfamilien. Manche Familien sind auf die Arbeitskraft der Frauen regelrecht angewiesen. Die Männer sind kriegsversehrt, wurden durch Sprengfallen bei der Arbeit getroffen, haben Tuberkulose oder haben die Familien verlassen. Die Frauen finanzieren dann mit ihrem Einkommen das Schulmaterial für die Kinder und es werden bessere Lebensmittel gekauft. Impfkampagnen für Herden und Entwurmung haben zur besseren Fleischversorgung und damit zur gesunden Ernährung beigetragen. Das Einkommen konnte in manchen Familien um fast 25 Prozent gesteigert werden. Bewässerungskanäle haben vielen Familien ermöglicht, bisher nicht bebaute Flächen für landwirtschaftliche Produktion zu nutzen. Selbstgezüchtete Pilze aus den Dörfern werden in Masar-i-Scharif gern für die Pizzaproduktion genommen.

Die Autorin Hannelore Börgel mit einer älteren Frau in einem Dorf in Afghanistan. Die Frau bat darum, ein Foto mit ihr zu machen.

© Börgel

Ja, Entwicklungszusammenarbeit ist zum Teil kleinteilig. Aber Entwicklung in einem seit 40 Jahren kriegsgeschundenen Land muss unten anfangen, hier werden die Wirkungen erzielt, die langfristig Nachhaltigkeit hervorbringen können. Wir würden unser Land nicht verlassen, sagten mir die Bauern im April 2016, wenn wir Arbeit und Einkommen hätten. Weil es nicht ausreichend Arbeit gibt und nachts Taliban Steuern eintreiben, gehen junge Männer weg, machen sich auf, um nach Europa zu fliehen. Sie fliehen allerdings auch vor Sprengfallen und Sprengstoffattentaten. Es gab im März und April 2016 keinen einzigen Tag, an dem nicht irgendwo etwas passierte. Ich selbst musste schnell ein Dorf verlassen, als ein Maschinengewehr in der Nähe losging. Ein Bauer erzählte mir gerade, wie sie ihr Entwicklungsprojekt durchgeführt haben und welche Pläne sie für die Zukunft haben. Einen Tag später hörte ich, dass in dem Dorf drei Tote und zehn Verletzte zurückblieben.

Zähes Ringen um Bildungseinrichtungen

Trotz der korrupten afghanischen Elite, die unter dem Einfluss der internationalen Gemeinschaft zum Teil immens reich geworden ist, war es möglich, dass die internationale Entwicklungszusammenarbeit Erfolge aufweisen konnte. Bereits 2014 konnte festgestellt werden, dass fast neun Millionen afghanische Kinder, darunter drei Millionen Mädchen, wieder zur Schule gehen. Gab es am Ende der Talibanzeit 2001 nur noch vier Lehrerausbildungsstätten, so gibt es jetzt 44, verteilt in allen 34 Provinzen. Direkt aus den ersten Abiturjahrgängen wurden junge Frauen zu Lehrerinnen ausgebildet. Frauen hatten Berufsverbot unter den Taliban. In manchen extrem konservativen Gegenden dürfen Mädchen nur von Lehrerinnen ausgebildet werden, sonst schicken die konservativen Eltern ihre Töchter nicht in die Schule. Immer wieder müssen Schulen zeitweise geschlossen werden, weil sie von Taliban oder anderen politischen Kräften, Aufständischen bedroht werden. Wenige Kilometer weiter kann eine gut funktionierende Schule ihren Unterricht aber ungestört weiterführen. Den Schulbeiräten, in denen Eltern, Lehrer, Lehrerinnen und örtliche Älteste und in vielen Fällen auch Mullahs sich gemeinsam für die Bildung der Kinder einsetzen, fällt eine sehr wichtige Rolle zu. In Provinzen und Distrikten, in denen akute Machtkämpfe stattfinden zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen, riskieren diese Schulbeiräte ihr Leben. Zäh ringen sie mit den Ältesten der Gemeinde, mit den Mullahs und den gemäßigten Taliban, um sie vom Wert der Bildung zu überzeugen. Argumente – wie: lesen zu können, heißt den Koran selbst lesen zu können – haben Schulen schon mal wieder geöffnet, die zuvor geschlossen waren. Der Fortschritt beim Aufbau des Bildungssystems wird auch vom Einfluss der Ältesten und der Mullahs bestimmt, die die Freitagspredigt dazu nutzen, aufmüpfige junge Männer, die Mädchen und junge Frauen auf den Schulwegen belästigen, zur Ordnung zu rufen. Rückschläge mobilisieren oftmals neue Kräfte in den Gemeinden. Sogar in Gegenden, wo Menschen in diesem Ringen um Bildung zu Tode gekommen sind, gibt es immer wieder einzelne Personen, die erneut bereit sind, die Gemeinschaft vom Wert der Bildung zu überzeugen.

Der Sohn des Schulleiters wird ermordert

In der südlichen Provinz Kandahar zum Beispiel wurde der 18 Jahre alte Sohn des ehemaligen Schulvorstehers und Stammesführers vor den Augen seines Vater am Baum aufgehängt, nur Wochen nachdem die Schule wieder eröffnet war. Es sollen pakistanische Taliban gewesen sein. Für die Wiedereröffnung der Schule waren die Unterschriften von drei Polizeistationen eingeholt worden, um die Sicherheit der Schule, der Schüler und der Lehrer zu gewährleisten. Selbst die Bildungsabteilung der Provinzadministration wurde konsultiert. Als die Taliban kamen, war niemand da. Man ließ es geschehen. Der Schulbeirat verließ die Gegend. Der ehemalige Schulleiter, ein gebrochener Vater, schwarz gekleidet, in sich zusammengesunken, erzählt mir wenige Monate später, im Mai 2014, vom Mord an seinem Sohn. Ich bedanke mich, dass er trotz des großen Leids mir seine persönliche Tragik geschildert hat. Ich kann seinen Sohn nicht wieder lebendig werden lassen, aber ich verspreche ihm, seine persönliche Tragik in Deutschland, in Europa bekannt zu machen, als Beispiel dafür, unter welchen Umständen in manchen Orten in Afghanistan versucht wird, die Bildung wieder in Gang zu setzen. Und wie hoch die persönlichen Opfer dafür sein können. Der Vater schüttelt mir sehr lange die Hand und geht, tief gebeugt vom Leid.

Patronage hat es immer gegeben

Auch das Patronagesystem greift in den Schulalltag ein. Schulen und Lehrer und Lehrerinnen werden eingeschüchtert, unter Druck gesetzt, von hochrangigen Personen und Politikern. Auf diese Weise werden Schüler und Schülerinnen immer wieder von einer Klasse in die andere versetzt und verlassen die Schule mit einem Abschlusszeugnis, ohne ordentlich lesen und schreiben zu können. Wir dürfen das nicht mehr zulassen, sagen mir Lehrer und Lehrerinnen. Wir müssen uns endlich dagegen wehren. Schließlich beschädigen solche Machenschaften das gesamte Bildungssystem. Patronage hat es immer gegeben in Afghanistan. In Kriegsjahren hat dieses System das Überleben gesichert. Aber in den Wiederaufbaujahren erweist es sich als Hindernis. Patronage greift nicht nur in die Schulen ein, es setzt auch Institutionen unter Druck. Immer wieder versuchen Abgeordnete und Politiker, ihre Klientel in Institutionen reinzudrücken, sozusagen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, aber auch um Einfluss dort auszuüben. Unabhängig davon, ob die jeweiligen Personen die Qualifikation für die Positionen mitbringen. Sie nehmen hochqualifizierten Afghanen, die zum Teil aus dem Ausland zurückgekommen sind, die Arbeitsplätze weg und verhindern den Aufbau und die Modernisierung des Landes. Entwicklungspolitische Maßnahmen können die staatliche Verantwortung in Afghanistan nicht ersetzen. Wenn kriminelle Strukturen von Drogen-, Waffen- und Menschenhandel durch Straflosigkeit gedeckt werden, ist auf kommunaler Ebene weniger zu erreichen als ursprünglich geplant. Aber in jedem Dorf, in jedem Distrikt, in jeder Provinz gibt es Afghanen, die sich kümmern, die ihre Kinder zu den Schulen schicken und die sich gegen die korrupten Strukturen oft in beeindruckender Weise wehren. Damit kein Sack Zement, der mit deutschen Entwicklungsgeldern finanziert wird, auf dem Weg vom Lastwagen fällt, lässt ein Projektleiter jeden Sack abstempeln, gegengezeichnet vom Dorf kehrt der Sack leer zurück und wird wieder kontrolliert.

Drei Frauen, die Hannelore Börgel auf ihrer Reise durch Afghanistan traf. Sie züchten Pilze und Gemüse und wollten sich nur verschleiert fotografieren lassen.

© Börgel

Der Wiederaufbau ist in Afghanistan ein sehr langfristiger Prozess, der immer wieder von machtpolitischen Interessen behindert wird. Junge, gebildete Afghanen, die ihr Land nicht verlassen wollen, haben sich in Netzwerken zusammengeschlossen. Sie sitzen zum Teil in strategischen Positionen. Vielleicht schaffen sie es, weitgreifende strukturelle Wirkungen, die bisher vor allem auf der Makro-Ebene ausgeblieben sind, in Gang zu setzen. Sie gilt es zu unterstützen. Die internationale Gemeinschaft hat die physischen und mentalen Anstrengungen unterschätzt, die ein Wiederaufbauprozess erfordert. Afghanistan befindet sich mitten in einem Transformationsprozess, der durch die derzeitigen Auseinandersetzungen im Nahen Osten erschwert wird.
Nicht die Entwicklungspolitik hat versagt, nein, die Politiker haben versagt. Sie entscheiden. Das Sagen haben die Politiker aus den USA und ihre Verbündeten. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, die macht, was die Politiker sagen, die Entwicklungspolitik wird von den Rahmenbedingungen, die die Politik setzt, geleitet. Wenn etwas bleibt vom westlichen Engagement in Afghanistan, dann sind es die Wirkungen der Entwicklungspolitik. Im unmittelbaren Umfeld der entwicklungspolitischen Maßnahmen hat es immer Wirkungen gegeben. Die bleiben!

Afghanistan ist im weltweiten Entwicklungskontext ein Ausreißer nach unten

Die Verbindungsstraßen zu und zwischen den zuvor abgeschnittenen Dörfern, die Schulen, die entlang der Verbindungsstraßen gebaut worden sind, die Wasserversorgung in den Dörfern, die Bewässerungsanlagen, die Gesundheitsversorgung, die Entwicklungsräte, die erstmalig durch Wahlen auf Dorf- und Distriktebene multiethnisch zusammengesetzt waren. Das waren Ansätze zur Entwicklung der Demokratie von unten, die bis etwa 2007 aufgebaut wurden. Dann wurde Eile angemahnt. Entwicklungsprojekte mussten „übergabereif“ gemacht werden, sollten zum Teil nur noch regional unterstützt werden. Man hörte nicht zu, dass der Aufbauprozess in einem in großen Teilen dem Mittelalter verhafteten Land nicht in einem Jahrzehnt zu bewerkstelligen ist. Afghanistan ist im weltweiten Entwicklungskontext ein Ausreißer nach unten, wo die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelten Entwicklungsstrategien westlicher Länder und internationaler Institutionen häufig bereits zu ausgefeilt und zu komplex erschienen. Nach 15-jähriger weltweiter Unterstützung haben sich die politischen Rahmenbedingungen nach anfänglich positiver Entwicklung kontinuierlich verschlechtert. Deswegen blieben nachhaltige strukturelle Wirkungen weitgehend aus. Bisher ist es nicht gelungen, die Machtbasis des fragilen Systems ausreichend zu stabilisieren. Leider hat die Einbindung ehemaliger Warlords und anderer Machthaber in die neuen Strukturen die Glaubwürdigkeit der internationalen Gemeinschaft beschädigt.

Die Autorin begleitet den Wiederaufbau in Afghanistan seit 2002 als Gutachterin und Beraterin für deutsche und internationale Entwicklungsinstitutionen.

Hannelore Börgel

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