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Interview mit dem Kriminologen Sebastian Scheerer: "Eine Art perverser Marketingstrategie"

Der Kriminologe Sebastian Scheerer spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über das Profil des Attentäters von Oslo.

Herr Scheerer, das Massaker von Oslo war von unvorstellbarer Grausamkeit und Brutalität. Muss man den Täter nicht einfach als wirren, pathologischen Menschen bezeichnen?

Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass er aus Mordlust gehandelt hat. Die Tatsache, dass er sich jahrelang mit seinem Text befasst hat, zeigt, dass er sich intellektuell und mit seiner ganzen Identität in das Thema hineingearbeitet hat. Für den Kriminologen ist interessant, dass er durch seine Inszenierung ein Maß an Aufmerksamkeit generiert hat, die nahezu beispiellos ist: Er hat das Verhältnis zwischen Tat und eigener Erläuterung seiner Motive umgekehrt. Normalerweise würde ein Attentäter die Tat selbst als Botschaft verstehen und würde allenfalls noch ein Bekennerschreiben mit geringem Umfang hinterherschicken. In diesem Fall hat er eine grausame Tat begangen, bei der sich zunächst die ganze Welt fragt, was diesen Mann getrieben hat. Und er verweist wenige Stunden nach der Tat auf sein Buch und sein Video, was eine Art perverser Marketingstrategie ist.

Liegt darin auch der Unterschied zu einem Amokläufer, der meistens seine Tat aus einer kurzfristigen Frustsituation heraus begeht?

Gewisse Züge erinnern bei dieser Tat an einen Amokläufer. Aber sie unterscheidet sich auch in vielerlei Hinsicht davon. Beim Amokläufer gibt es normalerweise ein Syndrom von Stress in mehreren Lebensbereichen – Beruf, Beziehung und so weiter. Es ist in aller Regel eine persönliche, keine politische Sache. Und der Amokläufer setzt gewöhnlich einen Schlusspunkt, er lässt sich von der Polizei erschießen oder erschießt sich selbst. Das inszeniert er als persönlichen Schlusspunkt für seine Existenz. Breivik aber hofft erstens, dass er durch diese Tat in die Geschichtsbücher eingeht und hofft zweitens, die politische Rezeption seiner Tat und seiner Aussagen als politischer Beobachter und Akteur weiter verfolgen zu können.

Wird er die erhoffte Aufmerksamkeit bekommen?

Man möchte ihn natürlich einerseits durch Nichtachtung strafen. Das ist eine normale Reaktion einer Gesellschaft auf solch ein perfides Attentat. Man möchte nicht in seiner Strategie funktionieren. Deswegen sagt man auch: ,Der ist verrückt’. Aber wenn ich mir das, was bisher über den Täter und seine Produkte bekannt ist, anschaue, komme ich zu dem viel beunruhigenderen Schluss, dass er durchaus zurechnungsfähig ist. Er ist nur so von sich und seiner Botschaft und seiner historischen Mission überzeugt, dass er einen Bürgerkrieg in Europa voraussagt, gegenüber dem sich der Zweite Weltkrieg wie ein Picknick ausnimmt. Und weil das für ihn eine unausweichliche Entwicklung ist, sieht er sich berechtigt, als Fanal schon jetzt mal unschuldige Menschen umzubringen. Er rechtfertigt sich aus einer Position heraus, die irgendwo zwischen einem weltgeschichtlichen Staatsmann und einem Halbgott liegt.

Kann das Umfeld eines solchen Täters das Gefahrenpotenzial im Vorfeld erkennen?

Das glaube ich nicht. Er hat seine Tat als relativ ,einsamer Wolf’ vorbereitet. Bei solchen Leuten, die auch im Internet ein sehr niedriges Profil darbieten, ist es äußerst schwierig, das im Vorfeld mitzubekommen. Diese Art der Tatvorbereitung gehört zu den gefährlichsten überhaupt, weil sie mit den heutigen Ermittlungs- und Überwachungsmethoden sehr schwer zu erfassen ist.

Deshalb ist es für die Gesellschaft auch ungeheuer schwierig, sich vor solchen Tätern zu schützen?

Ja. Natürlich gibt es gewisse Anhaltspunkte. Er war ins Visier des norwegischen Verfassungsschutzes geraten, weil er für den Gegenwert von 15 Euro Chemikalien in Polen gekauft hatte. Aber er hatte andererseits auch ein landwirtschaftliches Gut, für das er sechs Tonnen Dünger erworben hat, und das ist für einen solchen Hof völlig normal. Die Überwachung ist relativ intensiv und kleinteilig. Aber diese Art von Tatvorbereitung ist überaus schwer zu entdecken.

Wie groß ist die Gefahr von Nachahmungstätern?

Ich glaube nicht, dass viele Leute technisch und intellektuell in der Lage sind, solch eine Inszenierung zu replizieren. Andererseits geht davon natürlich eine Faszination für eine Reihe von Leuten aus, die wahrscheinlich psychisch etwas anders strukturiert sind als er selbst und so etwas versuchen könnten. Die meisten solcher Nachahmungsversuche würden zwar den Tätern nicht gelingen, aber natürlich ist nicht auszuschließen, dass es bei solchen Zwischenfällen auch Opfer geben könnte.

Sebastian Scheerer ist Professor für Kriminologie an der Universität Hamburg und geschäftsführender Direktor des Instituts für Kriminologische Sozialforschung. Das Gespräch führte Matthias Schlegel.

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