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Politik: Eine Utopie wird abgewickelt

DER NEUE MARKT

Von Ursula Weidenfeld

Den meisten Aktionären wird es schon gleichgültig sein, für manche ist es vielleicht eine späte Genugtuung: Die Deutsche Börse will den Neuen Markt, das Börsensegment für Technologieaktien schließen und statt dessen ein paar neue Börsensegmente mit unverdächtigen n gründen. Damit verschwindet der Teil der Börse vom Kurszettel, an dem in den vergangenen fünf Jahren zuerst die größten Hoffnungen und dann die tiefsten Verzweiflungen gehandelt wurden: die New Economy, das Segment, mit dem viele Menschen in Deutschland die Aktie als Kapitalanlage und den Reichtum als Gut für Jedermann entdeckt haben. Der Markt, der ein paar Jahre lang den Glauben an den immer währenden Aufschwung genährt hat. Der dann nur zwei weitere Jahre brauchte, um den Menschen jede Hoffnung zu nehmen, dass es jemals wieder besser wird.

Der Neue Markt war jedoch mehr als Wohlstandsmaschine und Geldvernichtungsapparat. Die Unternehmen, deren Aktien an diesem Markt gehandelt wurden, standen für den Menschheitstraum des dritten Jahrtausends: Informationstechnik und Telekommunikation, die aus sich heraus Werte und Produktivität schaffen, ohne dass es dazu großer menschlicher Mühen bedarf. Bio- und Gentechnologie, die sich so schnell entwickeln, dass der Mensch sich quasi von selbst verbessert, vermehrt und heilt – ohne, dass er sich anstrengen, Schmerzen leiden und verantwortlich leben müsste. Nanotechnologie, die die ganze Welt in winzigen Maschinen neu erkundet und sichtbar macht. Fortschritt, das war nichts Bedrohliches mehr, als Neuer Markt und Nasdaq boomten. Nichts, vor dem sich Arbeitnehmer, Gewerkschaften und Philosophen fürchten mussten. Fortschritt war ein Versprechen, an dem jeder teilnehmen konnte.

Diese Art Fortschritt ist – jetzt wissen wir wieder, was wir immer hätten wissen können – eine Utopie. Der Neue Markt ist ein Spiegelbild davon. Er notiert bei 367 Punkten – weit unter seinem Startniveau und Lichtjahre von seinem Höchststand von 9665,81 entfernt. Es ist gut, dass er nun verschwindet. Denn am Ende hat er nicht nur den Aktionären geschadet, die dort ihr Geld verloren haben. Er hat auch den Unternehmen geschadet, die es verdient hätten, gemocht zu werden. Er hat tausenden von Existenzgründern, Erfindern und Unternehmern geschadet, an deren Geschäftsideen und -risiken sich heute niemand mehr beteiligen will, weil Fortschritt und Erfindung nun mit dem Generalverdacht des Betrugs gehandelt werden.

Über Jahre hinweg hat der Neue Markt nicht nur die Verschwendung beschleunigt. Der Neue Markt – und mit ihm das amerikanische Risikosegment Nasdaq, der Nouveau Marché in Paris oder der Brüsseler Wachstumsindex – haben auch dafür gesorgt, dass viel Geld für Fortschritt da war. Nicht nur für Utopien, sondern auch für richtige Verbesserungen.

All das ist mit dem Ende der Börseneuphorie zusammengebrochen. Deutschland hat radikaler mit der Hoffnung auf den Boom und den immer währenden Wohlstand aufgeräumt als andere Länder. Nun läuft es Gefahr, auch das wegzuwerfen, was es dringend braucht: sein Potenzial. Das Potenzial neuer Techniken, neuer Unternehmen, der Mitarbeiter. Wenn das Ende des Neuen Markts auch diese Phase der Verzweiflung und Depression beenden würde, dann wäre wirklich etwas gewonnen. Dann nämlich hätten nicht nur die Unternehmen eine neue Chance, sich in einem anderen, glaubwürdigeren Börsensegment wieder um das Geld der Anleger zu bewerben. Dann hätte auch das unternehmerische, geistige und technische Potenzial dieses Landes wieder eine Chance.

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