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2012

© picture-alliance / Denkou Images

Politik: Ende einer Dienstzeit

Der Feierabend, das war mal ein Idyll, rechtschaffen war er und die Fantasie einer Gegenwelt. Es gibt ihn nicht mehr.

Helmut Dietl hat in den Interviews zu seinem neuen Film „Zettl“ jüngst immer wieder betont, dass man eine Figur wie seinen „Monaco Franze“ nicht mehr erfinden könne, weil die dazugehörige Wirklichkeit nicht mehr existiere. Sie sei perdu und, obwohl er das so nicht sagt, muss man annehmen, auch dieses Verschwinden sei ein Grund zum Depressionen-Kriegen. Es wäre leicht, die Wirklichkeit nach Monaco-inkompatiblen Zeichen abzusuchen. Man könnte mit Leuten anfangen, die im Gehen Kaffee trinken anstatt sich in ein Café zu setzen und mit der Kellnerin zu flirten. An Frozen-Yoghurt im Winter, an jungen Liebespaaren, die sich an einem Freitagabend zuerst Rotwein und Pasta und danach auf ihren Smartphones ökologisch produzierte Bodylotion bestellen. Man kann es selbstverständlich auch an relevanteren Dingen erkennen. An Wörtern, Begriffen, die keinen Sinn mehr machen. Der Feierabend gehört in diese Reihe, und wenn man den letzten Moment festhalten sollte, an dem es Sinn gemacht haben könnte, vom Feierabend als einer allgemein zugänglichen Erfahrung zu sprechen, muss man sich tatsächlich die 80er und den Monaco Franze anschauen. Vorausgesetzt, dass alle den Monaco noch kennen. Jenen Münchner Stenz, der leben und untergehen konnte wie kein Zweiter.

Genau genommen hat er den Feierabend ja sabotiert und anarchistisch unterwandert und den richtigen Feierabend seinem Freund und Kollegen, dem Manni Kopfeck, überlassen. Ein einigermaßen pflichtbewusster Polizeikommissar ist der Manni Kopfeck, der nach Dienstschluss seinen Mantel vom Haken nimmt, seinen Schreibtisch aufräumt und mit seiner braunen, langgedienten Aktentasche nach Hause geht. Dort kocht er sich dann etwas, oder er holt sich, unverheiratet wie er ist, im Wirtshaus eine Schweinshaxe. Wenn der Monaco wegen einer Frau ausnahmsweise ratlos ist, spielt er auch mal bis fünf vor 12 in der Nacht, keinesfalls länger, weil morgen muss er ja früh aufstehen, eine Runde Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. Der Monaco erspart sich jeden Kommentar. Er selbst orientiert sich allerdings nur sehr ungefähr an den üblichen Arbeits- und Schlafenszeiten. Der Feierabend, das heißt für den Monaco, dass die Zeit zum Frauenverführen von nun an die beste ist.

Da werden stafettenweise Tische beim Italiener bestellt, da wird reichlich Eau de Toilette versprüht und die Schuhe werden auf Hochglanz gebracht. Da singt man „Cantare!“ und „Volare!“, während man, in Vorfreude auf eine neue Eroberung, den frisch gewienerten Polizeipräsidiumsflur hinabflaniert, hinaus in die Nacht. Ein Traum von einem ruinösen Lebensstil ist das, ein Traum von einem Feierabend!

Heute könnte der Monaco seine Nächte nicht mehr unbehelligt verleben. Er müsste sich hüten vor dem Blackberry oder der nächsten SMS. Seine Ehefrau, sein Spatzl könnte ihn jederzeit erreichen, und er könnte am Frühstückstisch keine Ausreden mehr erfinden. Es steht zu bezweifeln, dass das dem Monaco, der ja doch sehr auf Grenzen und Takt geachtet hat, besonders gefallen hätte. Die Sache ist entschieden. Was nicht heißen soll, dass Menschen keinen Feierabend machen. Doch, doch. Das tun sie schon noch. Die Frau an der Kasse ruft dem Kollegen zu, sie mache gleich Feierabend. Den Malerlehrling überfällt die Schwere des Feierabends auf dem Weg nach Hause in der U-Bahn. Zu sagen, niemand mache Feierabend, wäre reine Ignoranz. Und doch.

Als soziales, gesellschaftliches Rollenfach ist er gestorben. Als eine gängige Währung des Alltags, als ein prägender Begriff. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Gottfried Korff hat in den „Deutschen Erinnerungsorten“ über den Feierabend geschrieben, ihn gewissermaßen zum Repertoire des „Gemüts“ gezählt. Wie Weihnachten und die Hausmusik und den Deutschen Wald. Der Feierabend, zeigt Korff, ist nicht das schlichte Gegenteil von Arbeit. Man denke zwar zuerst immer an Stechuhren und Werkssirenen, vergesse dabei aber das eigentlich Entscheidende. Der Feierabend ist nämlich eher die Fantasie einer Gegenwelt. Ein Mentalbild. Eine bürgerlich-intellektuelle Projektion des 19. Jahrhunderts, in der sich der Trost einer vermeintlichen Idylle vor den Zumutungen der Moderne bewahrt.

Eine Wanduhr soll schlagen. Eine Katze schnurren. Ein Mädchen spielt für die rechtschaffenen Eltern Klavier. Als häusliche Szenerie im schmeichelhaften Licht der gemütlichen Stube oder des Salons ist der Feierabend im 19. Jahrhundert ein bürgerlicher Topos. Ein Versprechen, dass das private Glück den großen Umwälzungen der Weltgeschichte trotzen werde. Das zumindest ist die eine Seite der Wahrheit. Die andere zeigt all diejenigen, die für den Fortschritt zahlen.

Zwischen 85 und 100 Wochenstunden arbeitet in den 1840/50er Jahren ein Mensch in der Fabrik. Es wird von Arbeitern berichtet, „die einen Blechnapf um den Hals tragen, um ohne Unterbrechung der Arbeit einige Bissen herunter zu schlingen“. In den 1870/80er Jahren wird die Arbeitszeit in den Fabriken auf 66 bis 75 Stunden gesenkt. Diese Veränderung, schreibt der Sozialhistoriker Jürgen Kocka, verdanke sich jedoch „rein ökonomischen Interessen“: Man dürfe den Gaul eben nicht zu Tode reiten.

Der Feierabend wird zum Umschlagplatz. In den Großstädten wird er mit zunehmender Industrialisierung und Technisierung zu einer Manege. „Die Angestellten“, die tagsüber in den Büros und Kaufhäusern ihre Miete verdienen und nach Feierabend etwas erleben wollen, stürzen sich hinein. Der große Journalist und Soziologe Siegfried Krakauer hat sie begleitet. Einen Bilanzbuchhalter und einen Kassenbeamten zum Beispiel, „gesetzte Männer, denen sicher für gewöhnlich außer dem Büroleben und dem engen Haushalt nichts anzumerken ist“. Mit ihnen taucht er ein in den Amüsierbetrieb. Noch ein Bier und noch eine Polka, „und die Leute verwandelten sich vor meinen Augen. Das waren nicht mehr gedrückte Büroangestellte, sondern richtige Elementargewalten, die aus dem Gehege brachen und sich auf ziemlich unbekümmerte Weise vergnügten.“

Man muss dazusagen: Krakauer misstraute diesem Feierabend. Genau genommen misstraute er den politischen und sozialen Verhältnissen, die dafür sorgen, dass zwischen den Zuständen, die „ein kleiner Angestellter“ während der Arbeit durchlebt und denen, die er sich in seiner freien Zeit einverleibt wie eine erotische Beute, nachgerade Welten liegen. Etwas Anfallsartiges, Wütendes hat dieser Feierabend, den Krakauer an keiner Stelle beim Namen nennt. Dieser Feierabend hat nichts von einer Idylle. Er ist das, was von einem übrig bleibt, wenn die Arbeit mit einem fertig ist, und die eigenen, ungestillten Bedürfnisse danach verlangen, dass jetzt noch was geschehen muss.

Eine Frau Mitte 40. Ende der 1990er Jahre lebte sie, eine Nachfahrin der Angestellten bei Krakauer, in einer kleinen Wohnung in München. Sie arbeitete in der Gastronomie, einem Restaurant weiter draußen. Am Sonntag telefonierte sie mit ihrer Mutter wie eine wohlerzogene Tochter. Sie liebte einen Betrüger. Der hat sie verlassen. Seither ging sie nach Dienstschluss regelmäßig in den Münchner Spätlokalen verloren. Sie verschwand ganz einfach, suchte sich Männer für irgendetwas in den frühen Morgenstunden. Noch am nächsten Mittag klang ihre Stimme rau. Ihr Gesicht war verquollen. Doch sie schaffte es. Sie schminkte sich die Spuren weg. Unpünktlich war sie nie.

Ein Schubertlied erzählt 1823 von diesem Feierabend der unglücklich Liebenden. Er ist Geselle unter Gesellen, sitzt „Am Feierabend“ mit den anderen zusammen. Der Müller lobt die geleistete Arbeit, doch der Geselle ist taub gegen das Lob. Er verzehrt sich nach der schönen Müllerstochter. Durch „alle Haine“ möchte er wehen, sich verwandeln in eine Naturkraft, damit sie ihn bemerkt. Doch die schöne Müllerstochter nimmt keine Notiz. Mit seiner Unruhe, seinem Tempo wagt das Schubertlied sich weit vor in die Einsamkeit. Es entlässt den Feierabend aus seiner harmlosen Behaglichkeit. Man kann vergehen in diesem vermeintlichen Frieden, kann sich zu Tode saufen. Man kann nach außen hin wirken wie ein besonnener Mensch und inwendig zersplittern.

Die ordentlichen Leute werden sich hüten. Sie werden den Feierabend „rechtschaffen“ nennen. Zugleich werden sie versuchen, ihn kleinzureden. und ihn höchstens ausnahmsweise ein bisschen verlängern. „Lieber Herr lass’ Abend werden, am besten noch vor Mittag.“ Eine 94-jährige, fast blinde Dame sagt diesen Satz, nachdem sie an einem verregneten Tag im vergangenen Herbst sechs Stunden auf einem Krankenhausflur verbracht hat und nun, am frühen Nachmittag, das rettende Sofa erreicht.

Als Magd hat sie auf einem Bauernhof geschuftet. Nach dem Krieg arbeitete sie in einem Berliner Modehaus und packte im Versand die maßgeschneiderten Kleider der Damen in die richtigen Kartons. Einen Feierabend habe es für sie nie gegeben, sagt sie und ähnelt darin dem alten Gärtner von der schwäbischen Alb, der seine Frau im Auto neben sich schuldbewusst darauf hinweist, dass da drüben noch jemand „schaffe“, während man selbst eine Spazierfahrt zum Kloster Blaubeuren unternehme. Feierabend, sagt er, sei das, was geschieht, „wenn der liebe Gott einen nach Hause holt“.

Das Leben als Mühsal, als Arbeit im Weinberg des Herrn. Im Laufe seines Lebens war der Feierabend vieles: Zuerst war er eine Art der Liturgie, war die Vorbereitung und der Heilige Abend selbst. Er war die Einstimmung, ein Schritt in die Innerlichkeit. Eine Losung, ein Schnaps und ein Korn und ein Fußballspiel. Und dann war er das, was die italienischen Faschisten in ihrem „Opera Nationale Dopolavoro“ und die Nationalsozialisten aus ihm machten. Ein völkisches Erlebnis.

Der Feierabend ist den Nazis kein Privatvergnügen. Überhaupt sprechen die Nazis schon eher von Freizeit. Genauer, „vom Sinn und Zweck der Freizeitgestaltung“. Deutsch muss sie sein, diese Freizeit, und sie fordert den „totalen Menschen“, den, der sich ertüchtigt für die Herrschaft über die Welt. Dem Reichsamt „Feierabend“, einer Unterabteilung der Organisation „Kraft durch Freude“, wird die Förderung „deutschen Kulturschaffens“ übertragen.

Nach dem Krieg hat der Feierabend seine Stimme gesenkt. Er hat es, auf der Suche nach Normalität und der Verdrängung heftig zugeneigt, noch einmal mit Anleihen an die Stube des 19. Jahrhunderts versucht. Mit züchtig angezogenen Menschen, die einem zivilen Beruf nachgehen. Mit einem Vater, der nach Feierabend keinen Ärger wünscht. Einer Mutter, die ihren Mann mit guter Hausmannskost verwöhnt. Mit Kindern, die finden, dass diese ganze spießige Form der Existenz unglaublich verlogen ist. Das Luxusgeschöpf Hildegard Knef sang 1966 dazu einen eleganten Kommentar. „Ich möchte am Montag mal Sonntag haben und Feierabend vor dem Aufstehen sagen.“ Was wäre wenn? „Ein Abschiedskuss“ an den Alltag könnte dieser Feierabend sein, wenn er es wagen würde, aus der Reihe zu tanzen. Der Feierabend liefert jeden Tag einen Vorgeschmack, eine mögliche Chance zum Ausbruch.

Die Soziologen erklären es seit dem Ende der 90er Jahre: Arbeit sei keine verlässliche Grenze mehr. Sie habe sich subjektiviert. Sei zu einem allumfassenden Anspruch an das Ich geworden, sei quasi in das Ich hineingekrochen. Und das Ich gerate dementsprechend unter Druck. Wer findet durch die eigene Arbeit einen Platz in der Gesellschaft? Wer kann leben vom eigenen Lohn?

Interessiert an „jungen, hoch- und höchstqualifizierten“ Menschen hat der Arbeitspsychologe Ernst-H. Hoff eine Studie zum Thema „Arbeit als Lebensinhalt“ geleitet. Doktoranden seines Instituts sprachen mit 50 „hochreflektieren“ IT-Spezialisten, die sich zunächst keinerlei Sorgen um ihr Leistungsvermögen machten. „Die Zwänge werden teilweise gewollt“, erklärt Hoff. Die jungen Leute wollen sich beweisen. Erst wenn die Liebe zuschlage, entstünden Konflikte. Auf einmal wäre ein freies Wochenende doch ziemlich schön. Das Wochenende hat den Feierabend abgelöst. „Feierabend“, so Hoff, „sagt niemand mehr.“ Die Maßeinheit greift ins Leere. Dieser einzelne, kleine Feierabend, der daherkommt wie ein Bote aus der Provinz. Es scheint, als sei Feierabend etwas für Loser. Man spricht jetzt von „Work-Life-Balance“, von „Qualitätszeit“ oder, wie der Betriebsratspressesprecher des VW-Konzerns Gunnar Kilian, von „Erholzeit“.

Man habe begriffen, ahne, dass man die eingerissenen Grenzen ein Stück aufbauen und gegen den digitalen Dammbruch verteidigen müsse. Herr Kilian versichert lachend, im Urlaub bloß zweimal täglich seine E-Mails anzuschauen. Am Morgen, und nachmittags um 16.15 Uhr ein zweites Mal. Er sei kein gutes Vorbild, sagt er. Sein Blackberry empfange neue E-Mails rund um die Uhr. Die Blackberrys der VW-Manager tun es ebenfalls. Die der nach Tarif beschäftigten Kollegen dagegen nicht. Seit Dezember vergangenen Jahres werden bei VW die zuständigen Server um 7 Uhr morgens eingeschaltet und um 18.15 Uhr wieder ausgeschaltet.

„Der Feierabend ist gemacht, die Arbeit schläft, der Traum erwacht, die Sonne führt die Pferde trinken; der Erdkreis wandert zu der Ruh“ dichtete 1715 der Lyriker Johann Christian Günther, und man kann es getrost diesen Versen überlassen, den Abstand zu beschreiben, der zwischen jenem versunkenen Gegenbild des Feierabends und einem Moment liegt, an dem sich Server eine Nachtruhe lang abschalten oder auch nicht. In Wahrheit schaltet sich selbstverständlich überhaupt nichts mehr ab.

Welche Auswirkungen die digitalen Geräte haben, welche subklinischen Folgen für unser soziales Verhalten („Wie häufig unterbrechen Sie – von 1 bis 7 – eine Real-Life-Kommunikation, um auf eine digitale Mitteilung zu antworten?“), auf unsere Wahrnehmung und Hirnstrukturen haben, das ist noch nicht völlig ausgemacht. Ansonsten wäre da noch die Frage, wie genau die Gesellschaft die Antwort im Grunde kennen will? Wie sehr sie sich irritieren lassen möchte, in ihrer Zustimmung und Selbstauslieferung an die Unbedingtheit der digitalen Revolution?

Der Feierabend ist mittels des Vokabulars dieser Online-Existenz jedenfalls nicht zu buchstabieren. Er ist der Offline-Zustand einer älter werdenden Offline-Generation. Ein Relikt, das dem Lesen von Buchstaben auf papiernen Seiten ähnelt. Ein Zustand der Versunkenheit. Er blinkt nicht, er spiegelt nicht die eigene Unabkömmlichkeit. Er kokettiert auch nicht mit dem nächsten Karriereschritt. Möglich, wir sind bereits zu eitel, zu verstreut und narzisstisch, um diesen Offline-Zustand lange zu ertragen? Und vermutlich haben wir nur noch das Wort „Rücktritt“, um ihn zu beschreiben. Alle Fenster auf unserem Display würden sich schließen. Wie ein Garagentor in Großburgwedel. Die nächste Nachricht bliebe aus.

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