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Engpässe bei Arzneien: Diagnose: Chronisch unterversorgt

Krankenhäuser beklagen immer häufiger Engpässe bei der Versorgung mit Medikamenten. Wie kann das passieren - und welche Folgen hat es?

Der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach spricht von einem „handfesten Skandal“ und sein CDU-Kollege Jens Spahn von Zuständen, die eines Industrielandes und Exportweltmeisters nicht würdig seien: In deutschen Kliniken gibt es, so hat jetzt eine repräsentative Erhebung der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) zutage gefördert, immer öfter Lieferengpässe bei lebenswichtigen Arzneimitteln. In nur einem Monat hätten den rund 100 befragten Häusern im Schnitt 25 der 400 bis 600 eingesetzten Präparate nicht zur Verfügung gestanden – und zwar zu 80 Prozent „ganz plötzlich“ und ohne jede Vorabinformation der Hersteller. Die DKG nannte diesen Befund „alarmierend“ und rief Politiker und Pharmaindustrie dazu auf, das Problem der Lieferengpässe „schnellstmöglich anzugehen, bevor Patienten ernsthaft zu Schaden kommen“. In einem gemeinsamen Brief an die Gesundheitspolitiker von Bund und Ländern, der dem Tagesspiegel vorliegt, bestätigten die vier großen Arzneihersteller-Verbände solche „Lieferschwierigkeiten“. Diese könnten „kurzfristig sein und nur wenige Tage dauern, aber auch längere Zeiträume umfassen“.

Welche Auswirkungen haben die Engpässe auf die Patienten?

Am häufigsten dokumentiert wurden Lieferprobleme bei Antibiotika und Krebsmedikamenten. Da diese Mittel vorwiegend von Schwerstkranken benötigt würden und die Onkologie sich immer stärker auf medikamentöse Therapie stütze, wögen die Ausfälle umso schwerer, warnen die Experten der Krankenhausgesellschaft. Arzneiumstellungen seien bei solchen Patienten „besonders problematisch und risikobehaftet“. In vier von fünf Fällen immerhin konnten die befragten Kliniken auf gleichwertige Alternativpräparate zurückgreifen. Bei 20 Prozent allerdings mussten die Kranken auf Arzneimittel umgestellt werden, die aus Medizinersicht als „therapeutisch nicht gleichwertig“ anzusehen waren. Gerade in der Chemotherapie sei das hoch bedenklich, weil hier oft auf die Kombination verschiedener Medikamente gesetzt werde und die Wirkungsweise nur in dieser Kombination wissenschaftlich erforscht sei, sagt der Mediziner und SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach. Man müsse also davon ausgehen, dass einige Patienten, bei denen es um Leben und Tod geht, wegen der Lieferausfälle „derzeit nicht optimal behandelt werden“.

Was sind die Gründe für die Engpässe?

Die Pharmaindustrie führt neben „unerwartet hoher Nachfrage“ vor allem den Kostendruck ins Feld, „der die Hersteller zur Nutzung aller Möglichkeiten der Effizienzsteigerung“ zwinge – etwa die Konzentration auf wenige Hersteller oder die „Produktion an preisgünstigen Standorten“ außerhalb der EU. Richtig daran ist, dass es sich bei den Lieferschwierigkeiten vor allem um Begleiterscheinungen des Versuchs handeln dürfte, unter allen Umständen Kosten zu sparen. Bezeichnend ist es ja, dass die Lieferprobleme kaum die teuren patentgeschützten Mittel betreffen, sondern vor allem die für den Preiskampf freigegebenen Nachahmerprodukte. Die Ausfälle seien „ausschließlich auf die Profitgier der Pharmaindustrie zurückzuführen“, sagt der SPD-Politiker Lauterbach. Gleichzeitig wittert er dahinter ein gesteuertes Manöver. Teilweise seien die Engpässe „bewusst initiiert, um die Kliniken zum Umstieg auf teurere Präparate zu bewegen“, behauptet er. Das schaffe man, „indem man kostengünstigere Mittel künstlich verknappt“. Und gleichzeitig versuchten die Hersteller die Politiker nun mit ihrem Kostenargument „zu erpressen, damit sie wieder von der Preisbremse runtergehen“. Tatsache ist, dass viele Medikamente inzwischen weltweit nur noch von einer Firma und in einer einzigen Produktionsstätte hergestellt werden. Treten dort Qualitätsprobleme auf, sind alle Abnehmer betroffen, es gibt keine Ausweichmöglichkeit. Gleichzeitig fehlt es in den Billiglohnländern, in denen die Hersteller zunehmend produzieren lassen, an Fachpersonal und technischer Infrastruktur, um Pannen schnell beheben zu können. Und auf eine Lagerhaltung, mit der sich zeitweilige Lieferschwierigkeiten auffangen ließen, verzichtet die Pharmaindustrie aus Kostengründen mittlerweile weitgehend. Das Just-in-Time-Prinzip funktioniere aber „oft nicht, wenn die Herstellerbetriebe in China oder Indien sitzen“, gibt der Bremer Arzneimittelexperte Gerd Glaeske zu bedenken. US-Statistiken zeigen, dass fast die Hälfte der Arzneilieferprobleme auf Produktionsmängel zurückzuführen ist. Die Palette reicht von Ausflockungen (wie kürzlich beim Grippeimpfstoff von Novartis) über die Kontamination durch Pilzsporen oder Bakterien bis zur Verunreinigung durch Glas- oder Metallsplitter. Lieferengpässe sind längst ein internationales Phänomen. In den USA etwa hat sich die Zahl nicht lieferbarer Präparate in sechs Jahren fast verfünffacht. Auch viele Todesfälle seien darauf zurückzuführen, so das Fachblatt Lancet.

Wie kann dem Problem begegnet werden?

Lauterbach wirft der Regierung Untätigkeit vor. Die Entwicklung sei der Fachszene seit einem Jahr bekannt, Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) hätte längst dafür sorgen müssen, dass es für bestimmte Medikamente Vorräte gibt. Ein Ministeriumssprecher sagte, man habe mit allen Beteiligten Gegenmaßnahmen erörtert und werde die Gespräche Anfang 2013 fortsetzen. Wohin es gehen könnte, hat die Krankenhausgesellschaft aufgeschrieben. Sie fordert ein zentrales Melderegister für Lieferengpässe, damit davon keiner mehr überrascht wird. Sie verlangt eine Verpflichtung der Hersteller, zumindest Präparate für Schwerstkranke ausreichend vorzuhalten. Und sie dringt auf ein „behördliches Risikomanagement“. Engpassgefährdete Mittel müssten identifiziert, Gespräche mit anderen Herstellern rechtzeitig gesucht werden. Und wenn nichts anderes helfe, müsse knappe Arznei auch kontingentiert werden, damit es nicht mehr zu „willkürlichen Zuteilungen durch den Hersteller“ komme.

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