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Recep Tayyip Erdogans strategischer Weitblick ist weniger ausgeprägt als seine Temperament-bedingte Schwäche, spontan zu taktieren und zu reagieren.

© Reuters

Erdogan wird Präsident: Die Türkei hat eine europäische Chance verdient

Ist der neu gewählte Präsident charismatisch oder doch reaktionär? In der Türkei und im Ausland wird durchaus kritisch auf den Wahlerfolg von Recep Tayyip Erdogan reagiert. Doch die europäische Chance für die Türkei ist mit dieser Wahl nicht verloren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wird die Türkei künftig von einem „big player“ beherrscht, einem instinktsicheren, für das eigene Volk charismatischen Strippenzieher, oder von einer „loose canon“, einem in seinen Reaktionen auf dem internationalen Parkett unberechenbaren Politiker? Die Frage scheint die Situation polemisch zuzuspitzen, spiegelt aber die Bandbreite der Gefühle, mit denen sowohl in der Türkei als auch im Ausland auf den Wahlerfolg Recep TayyipErdogans bei den türkischen Präsidentschaftswahlen reagiert wird.

In alle Glückwünsche an ihn zu seinem Sieg bereits im ersten Wahlgang mischt sich der leise Unterton des Zweifels, der Sorge. Die Europäische Union begrüßt die Türkei in ihrer Botschaft an Erdogan als einen „Schlüsselpartner für die Europäische Union, ein Kandidatenland, das über den EU-Beitritt verhandelt, ein Nachbar, ein wichtiger Handelspartner und ein außenpolitischer Verbündeter“. All das ist nicht mehr so sehr Beschreibung der Realität als vielmehr Ausmalen eines Wunschbilds. Weil die Türkei sich im Annäherungsprozess an die EU hingehalten fühlte – gegenüber dem eigenen Verschulden daran war sie blind –, suchte Ministerpräsident Erdogan eine neue Rolle für sein Land im islamischen Raum, als Vorbild einer Synthese aus Islam und Moderne. Erdogans Türkei sollte nach dessen Willen Führungsnation für den arabischen Raum werden. Er übersah, dass die Vergangenheit, die Jahrhunderte währende osmanische Zwangsherrschaft über die Region, solchem Vormachtstreben bis heute entgegensteht.

Erdogans strategischer Weitblick ist weniger ausgeprägt

Tatsächlich liegt die Türkei heute nicht nur mit Israel, der zweiten Demokratie in dieser Weltregion, im Streit, sondern auch mit dem Irak, mit Ägypten und Syrien. Erdogans strategischer Weitblick ist weniger ausgeprägt als seine Temperament-bedingte Schwäche, spontan zu taktieren und zu reagieren. So hatte er mögliche Allianzen zerschlagen, bevor sie sich entwickeln konnten. Falsch war die Idee dennoch nicht. Was die Chef-Europäer Herman Van Rompuy und José Manuel Barroso in ihrer Eloge mangels Zuständigkeit zudem nicht sagen konnten

Die Türkei steht als südöstlicher Nato-Partner nicht nur an der Nahtstelle zur Konfliktregion des Nahen und Mittleren Ostens, sie ist in deren Krisen involviert. Der Bürgerkrieg in Syrien greift über die Grenze zur Türkei, und als vorübergehende Heimat für 1,5 Millionen Flüchtlinge ist der Bündnisstaat mit den menschlichen Problemen des Krieges mehr konfrontiert als irgendein anderes europäisches Land.

Die Versuchung für die Europäische Union ist groß, die Türkei in dieser Situation ihren Weg allein finden zu lassen, abzuwarten, wie Erdogan seine Präsidentschaft regeln will, ob er sich auch mit dem Verfassungsgericht anlegt, das ihn als letzte Instanz bremsen könnte. Allerdings kann eine Präsidialdemokratie nach US-Vorbild sehr wohl stabiler Garant rechtsstaatlicher Grundsätze sein, wie die Erfahrung lehrt. Ob Erdogan bereit ist, die dafür nötigen Kontrollmechanismen zwischen den Verfassungsorganen zu akzeptieren, weiß niemand. Sie einzuführen, bedürfte es einer Zweidrittelmehrheit im Parlament genauso wie zur Erweiterung der Präsidentenrechte.

Erdogans Kurs ist nicht unumstritten

Nein, die Türkei in dieser national wie regional schwierigen Lage allein zu lassen, wäre fahrlässig. Die vielen Gegenstimmen und die schwache Wahlbeteiligung zeigen, dass Erdogans Kurs nicht unumstritten ist. Aber er hat sein Land modernisiert wie kein Politiker vor ihm seit Atatürk. Die junge Generation in den Ballungsräumen orientiert sich an Europa, an westlichen Lebensformen, ohne dabei die Traditionen der Heimat gering zu achten. Erdogan selbst hat, eine völlig neue Tonlage für ihn, nach dem Sieg zu einem gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess aufgerufen. Auch in Deutschland koalieren Parteien, die sich im Wahlkampf zuvor erbittert bekämpft haben. Es sollte sich also keiner über die Türkei erheben.

Die Menschen, die Erdogan wählten, haben wie jene, die es nicht taten, eine europäische Chance verdient. Mag sein, dass Erdogan irrt, wenn er meint, Europa brauche die Türkei mehr als umgekehrt. Richtig ist, dass beide ohneeinander nicht können.

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