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Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble verfolgen die Debatte.

© dpa

Griechenland-Debatte im Bundestag: "Es wäre unverantwortlich gewesen"

Der Bundestag hat den Verhandlungen über ein drittes Griechenland-Hilfspaket zugestimmt. Zuvor lieferten sich die Abgeordneten aber eine emotionale Debatte.

Von Antje Sirleschtov

Vielleicht muss man so weit entfernt sein vom Berliner Reichstag wie der französische Politiker Jean-Christophe Cambadelis, um den schlimmen Vorwurf mit so klaren Worten beschreiben zu können, den die meisten Abgeordneten an diesem Freitag im Nacken spüren. Norbert Lammert hat den Bundestag zur Sondersitzung aus dem Urlaub zusammengerufen, man will mit einem Votum der Bundesregierung den Auftrag zu Verhandlungen über ein drittes Hilfspaket für Griechenland erteilen. Schon dies, man wird das später sehen, ist für die meisten im Plenum keine einfache Sache, quer durch alle Fraktionen. Denn eigentlich weiß jeder im Saal, wie wenig klar es ist, dass diese 86 Milliarden Euro den Menschen in Griechenland mehr helfen werden als die vergangenen Milliarden, und dass es gut sein kann, dass man in ein paar Jahren wieder hier sitzt und wieder über neue Milliardenhilfen abzustimmen hat und wieder nicht weiß, was daraus werden wird.

Das Bild vom hässlichen Deutschen ist wieder da

Doch es gibt noch etwas, das schwerer wiegt als das womöglich auf immer verlorene Geld für Athen. Und das ist Europa und das Bild, das die Nachbarn seit dem vergangenen Montag von Deutschland, von den Deutschen, und damit ja zuvorderst von seinen gewählten Parlamentariern zeichnen: Dieses hässliche Bild des besserwissenden allmächtigen Deutschen ist es, das viele der Anwesenden zusätzlich schockt und die Debatte diesen Freitag im Bundestag begleitete wie ein dunkler Schatten.

"Mein lieber Freund." Mit diesen drei warmen deutschen Worten beginnt Monsieur Cambadelis, der französische Sozialistenchef, einen offenen Brief an, ja wahrscheinlich an alle Deutschen. Er verstehe die "Sturheit" nicht, mit der Deutschland härteste Reformen als Gegenleistung für die neuen Hilfsmilliarden an Athen eingefordert hat, schreibt der Franzose. "Hat Euer Land die Unterstützung vergessen, die Frankreich schon kurz nach den in Eurem Namen begangenen Gräueltaten gewährte?" Einen Marshall-Plan, einen Schuldenschnitt und nicht zuletzt die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung nach dem Fall der Mauer 1989. Hat Berlin das alles vergessen, jetzt, wo es stark ist und mächtig und dem kleinen Athen glaubt, eine so harte Lektion in korrekter Haushaltsführung erteilen zu müssen?

SPD-Chef Sigmar Gabriel hat vermutlich eine seiner schwersten Wochen hinter sich.

© AFP

Angela Merkel kennt diesen Vorwurf nur zu gut. Sie hat schon vor fünf Jahren, damals begann die Griechenland-Dauerhilfe, ihr eigenes Foto mit Hitlerbärtchen an den Wänden Athens gesehen. Damals ging es noch um "Gegenleistungen" für europäische "Solidarität" und die deutsche Kanzlerin argumentierte kühl mit ökonomischen Zusammenhängen gegen den Vorwurf der Austeritätspolitik an. Schon damals hing der Vorwurf im Raum, die Deutschen würden die Einheit Europas nur als Monstranz vor sich her tragen, weil niemand mehr von Europa profitiere als Berlin selbst. Wenn es allerdings um die nationalen Interessen der Deutschen, wenn es um’s Geld also geht, dann entscheiden die Deutschen ohne Rücksicht auf andere. Angela Merkels Europa, das hat sich auch an diesem Freitag wieder gezeigt, wird von Regeln regiert, an die sich meistens halten, und wer das nicht tut, der muss eben gemahnt werden. Und Athen hat diese Mahnung der deutschen Kanzlerin schon mehrfach erlebt.

Angela Merkel beschreibt das Schicksal eines griechischen Rentners

An diesem Freitag aber liegt Griechenland am Boden. Eine Mischung aus Versagen von Politikern, griechischen und Troika-Eliten, Stolz und Ignoranz und allerlei anderen unheilvollen Ereignissen hat die Griechen so weit geführt, dass der nationale Kollaps nur noch eine Haaresbreite entfernt ist. Es muss sehr viel schlimmer stehen, als man weiß. Warum? Weil diese Kanzlerin wahrscheinlich noch nie zuvor eine Rede vor dem Bundestag damit begonnen hat, das traurige Schicksal eines Rentners zu beschreiben, der pro Woche nur 120 Euro aus dem Bankautomaten bekommt und ganz bestimmt auch das nicht mehr, wenn die Milliarden aus Europa nicht weiter fließen.

Menschlichkeit als Richtschnur Merkelscher Entscheidungen? Die Regierungschefin lässt ihren Gefühlen freien Lauf, wie man das nur sehr selten sieht: Wütend über den "Scherbenhaufen", den die griechische Regierung in den vergangenen sechs Monaten angerichtet hat, und ganz offenbar auch mitfühlend mit den Griechen, die nun "harte, sehr harte" Reformen durchführen müssten. Sogar Merkels "alternativlose" Politik hat in diesen Krisenwochen eine neue Dimension erfahren, und sie sagt das auch offen: "Vorhersehbares Chaos" hätte geherrscht, wenn sie am vergangenen Montagmorgen um sechs Uhr einfach vom Tisch aufgestanden wäre. Merkel ist sitzen geblieben, hat der französischen Hilfszusage noch ein paar bittere Bedingungen hinzugefügt und dann eingeschlagen. Es gab sie, die Alternative. "Es wäre unverantwortlich gewesen", sagt Merkel aber, "wenn wir diesen Weg nicht wenigstens versuchen würden."

Der Fraktionschef der Linken, Gregor Gysi, nannte das Hilfspaket "unsozial, undemokratisch und antieuropäisch".

© REUTERS

Eine Rückschau, mit der sich Merkels Vizekanzler Sigmar Gabriel an diesem Freitag gar nicht erst lange aufhält. Der SPD-Vorsitzende hat, obwohl er an den Brüsseler Verhandlungen eigentlich gar nicht unmittelbar beteiligt war, wahrscheinlich eine seiner schwierigsten Wochen in den vergangenen eineinhalb Jahren hinter sich. Denn anders als viele in seiner Partei glaubte auch Gabriel lange Zeit, dass ein Grexit der Griechen eine gangbare Alternative wäre. Bis zum vergangenen Wochenende, als das "Non-Paper" der deutschen Regierung die Brüsseler Verhandlungen mit der Idee des "begrenzten Grexit" anheizten und Gabriel offen zugab, dass er von den Plänen wusste und vorschlug, sie zu prüfen. Eine Position, die ihm die Genossen rasch austrieben. Ein bisschen einsam sitzt der SPD-Vorsitzende nun im Bundestag und wartet mit einem Blumenstrauß auf seine Banknachbarin, die Kanzlerin, die Geburtstag hat.

SPD-Chef Sigmar Gabriel fordert einen "Neustart"

Als Gabriel dann zum Rednerpult geht, ist sein Ziel klar: Niemand soll daran erinnert werden, dass er seine Partei schockiert hat und danach wenig elegant diese Option in der Schublade verschwinden ließ. Nun spricht der SPD-Vorsitzende sogar von einem "Neustart", den es vergangenes Wochenende gegeben haben soll, was für einige Erheiterung auch in den Reihen der SPD geführt hat. Und auch Gabriels Aufbaupläne für Athen, er will die Caritas als humanitärer Helfer nach Athen schicken und droht allen Reichen, man werde jetzt schärfere Steuergesetze machen, wirken eher ein wenig wie ein Ablenkungsmanöver. Ein kleines bisschen entschuldigt für seinen Zick-Zack-Kurs in Sachen Grexit hatte sich Gabriel bei den Genossen schon am Abend zuvor. Nun lobt er die deutsch-französische Achse und die europäische Einigung vom vergangenen Wochenende. Und ein wenig Glück hat Gabriel dann auch noch. Denn Peer Steinbrück hatte seinen Genossen am Donnerstag erklärt, er werde den Hilfsplänen aus Überzeugung seine Zustimmung verweigern. Steinbrück im Wahrheitsrausch? Dieses Erlebnis ließ SPD-Chef Gabriel bei seinen Genossen doch gleich in viel freundlicherem Licht erscheinen.

Wolfgang Schäuble ist an diesem Freitag die Wucht der Ereignisse besonders deutlich anzusehen: Er ist seit Tagen nicht nur das öffentliche Bild des bösen Deutschen. Er muss sich auch noch mit dem Vorwurf herumschlagen, vom Bundestag ein Verhandlungsmandat für dieses dritte Hilfspaket zu verlangen, an das er eigentlich selbst nicht glaubt. Nein, der Finanzminister nimmt seinen Vorschlag vom „begrenzten Grexit“ nicht mehr in den Mund, und er sagt auch nicht mehr, was er denkt. Nämlich, dass dieser Weg "besser" gewesen wäre.

Wolfgang Schäuble redet ungewöhnlich laut

Schäuble redet stattdessen ungewohnt laut und mit zeitweilig sich überschlagender Stimme von "heißen Herzen" und "kühlem Kopf", der jetzt zu bewahren sei. Man müsse nun sehen, fragt er: „Wie kann es gehen, dass es auch geht?" Und dann auch noch, dass Athen doch nicht unter einem "Protektorat" stehe. Kein Zweifel: Wolfgang Schäubles Kopf ist alles andere als kühl, sein Herz dafür ziemlich heiß. Und nicht einmal ein Lob der Kanzlerin ringt ihm ein kleines Lächeln ab. Was allerdings auch daran liegen mag, dass Schäubles Unions-Fraktion Merkels Lob mit so langem, so sehr langem Beifall quittiert, dass mancher im Rund sich an den Pflichtapplaus früherer Diktaturen erinnert fühlt. Oder gilt der Applaus von den Bänken von CDU und CSU eher der Selbstermutigung? Schließlich gibt es in Wahrheit weit mehr Abgeordnete in der Fraktion, als die 60, die später mit "Nein" stimmen werden, von denen man weiß, dass sie nur aus Disziplin und nicht aus Überzeugung ein "Ja" ankreuzen. Und die müssen nun ihren Wählern zuhause erklären, dass sie einem Hilfspaket zugestimmt haben, an das noch nicht mal der Finanzminister glaubt.

Die Linksfraktion stimmt mit "Nein"

Ein Dilemma, mit dem sich wahrscheinlich sehr viele im Bundestag in den nächsten Tagen herumschlagen müssen. Übrigens auch in der Linksfraktion. Denn auch, wenn Gregor Gysi das Hilfspaket "unsozial, undemokratisch und antieuropäisch" findet und seine Fraktion deshalb mit "Nein" stimmt. Im Ergebnis müssen sich die Linken vorwerfen lassen, damit ihre Freunde von Syriza und in gewisser Weise auch die Griechen im Regen stehen gelassen zu haben.

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