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Flagge zeigen. Eine Frau demonstriert auf dem Taksim-Platz stummen Protest.

© rtr

EU-Beitritt der Türkei: Deutschland hat weiter Bedenken

Die ursprünglich in der kommenden Woche geplante Öffnung eines neuen Verhandlungskapitels bei den Gesprächen zwischen der EU und der Türkei wird immer unwahrscheinlicher. Deutschland hat weiterhin Vorbehalte.

In die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei kommt kein neuer Schwung. Bei einem Treffen der EU-Botschafter in Brüssel habe es am Donnerstag weiterhin "eine Reihe von Fragen" gegeben, sagte ein EU-Diplomat. Konkret ging es bei dem Treffen um die Öffnung eines neuen Verhandlungskapitels bei den Gesprächen mit der Türkei. Vor allem Deutschland hat Vorbehalte gegen die Öffnung dieses Kapitels; damit wird es immer unwahrscheinlicher, dass die gegenwärtige irische EU-Präsidentschaft das fragliche Kapitel zur Regionalpolitik wie ursprünglich geplant am kommenden Mittwoch öffnen kann.

Seit Oktober 2005 führt die EU Beitrittsgespräche mit der Türkei. Von den insgesamt 35 Verhandlungsabschnitten wurde bislang allein jenes Kapitel vorläufig abgeschlossen, das sich mit Wissenschaft und Forschung befasst. Faktisch liegen die Beitrittsgespräche seit drei Jahren auf Eis. In den Prozess war im vergangenen Frühjahr Bewegung gekommen, nachdem Frankreichs Präsident François Hollande von der Blockadehaltung seines Amtsvorgängers Nicolas Sarkozy abgerückt war. Sarkozy hatte 2007 Einspruch gegen die Eröffnung von Verhandlungen bei fünf Kapiteln eingelegt. Dagegen erklärte Frankreichs sozialistischer Außenminister Laurent Fabius im vergangenen Februar bei einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu, dass sich Paris für die Eröffnung des Verhandlungskapitels 22 einsetze.

Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) sprach sich bei einem Treffen mit Davutoglu im Mai in Berlin dafür aus, den Beitrittsverhandlungen mit Ankara neuen Schwung zu verleihen. Im Verhandlungskapitel 22 zur Regionalpolitik geht es um EU-Strukturfonds, welche die Türkei im Fall eines Beitritts erwarten könnte. Weil sich die EU-Botschafter am Donnerstag nicht auf die Öffnung der Gespräche über die Regionalpolitik einigen konnten, dürfte daraus nach aller Wahrscheinlichkeit auch vor dem Ablauf der irischen EU-Ratspräsidentschaft Ende Juni nichts mehr werden.

Angesichts des umstrittenen Vorgehens des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen die Demonstranten in Istanbul stehen gegenwärtig allerdings weniger die Strukturfonds im Blickpunkt, sondern Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte. Um diese Punkte geht es in den Verhandlungskapiteln 23 und 24. Westerwelle kritisierte in einem Gespräch mit den "Nürnberger Nachrichten", dass einige EU-Länder - nämlich Griechenland und Zypern - die Kapitel 23 und 24 blockierten. Da die türkische Regierung auf die Demonstrationen "mit einer Verschärfung in Worten und Taten“ reagiert habe, sei es "umso dringlicher, dass wir in den Verhandlungen mit der Türkei möglichst bald in einen intensiven Dialog über Fragen der Grundrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheitsrechte eintreten".

Entfremdung zwischen Ankara und Brüssel

Während die regierungsfeindlichen Unruhen in der Türkei größtenteils abgeflaut sind, wird der politische Flurschaden im Verhältnis zwischen der Türkei und der EU erst jetzt richtig sichtbar. Ankara droht damit, die politischen Beziehungen zur EU auf Eis zu legen, falls die Europäer kommende Woche wegen der harten Linie der Erdogan-Regierung bei den Gezi-Unruhen die vorgesehene Eröffnung des neuen Kapitels stornieren sollten. Selbst wenn dieser Bruch vermieden werden kann: Die Entfremdung zwischen Ankara und Brüssel ist enorm.

Die Europäer werfen der türkischen Regierung ein undemokratisches und überhartes Vorgehen gegen Demonstranten im Istanbuler Gezi-Park vor, doch Ankara betont, ähnliche Polizeiaktionen in EU-Ländern würden kommentarlos hingenommen. Die Türkei vermutet, dass der Streit um ihre EU-Bewerbung insbesondere wegen der anstehenden Wahlen in Deutschland am 22. September erneut zum innenpolitischen Thema wird. Deshalb rücke nun die von der EU zugesagte Eröffnung des Verhandlungskapitels über Regionalpolitik in den Mittelpunkt des Interesses.

Sollten sich Deutschland und die offenbar ähnlich eingestellten Niederlande mit ihrer Ablehnung der Öffnung eines neuen Verhandlungskapitels durchsetzen, werde die Türkei den politischen Dialog mit der EU auf Eis legen, ließ sich ein türkischer Diplomat am Donnerstag in der vor allem von Ausländern gelesenen englischsprachigen Zeitung „Hürriyet Daily News“ zitieren. Zuletzt hatte es eine solche Unterbrechung der Beziehungen im Jahr 1997 gegeben.

Störungen der türkisch-europäischen Kontakte gibt es schon jetzt. Justizminister Sadullah Ergin sagte diese Woche eine Reise nach Brüssel ab, und der Auswärtige Ausschuss des EU-Parlaments verzichtete kurzfristig auf einen Besuch in der Türkei. Auch im türkisch-deutschen Verhältnis knistert es. Die türkische Regierung wehrte sich am Donnerstag mit Hinweis auf die NSU-Morde gegen die Äußerung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), sie sei erschrocken über die Gewalt gegen Demonstranten in der Türkei: Vize-Premier Bekir Bozdag sagte, ihm mache im Gegenzug Angst, dass die deutschen Behörden über Jahre die Morde der rechtsextremen NSU den Familien der türkischen Opfern selbst angehängt hätten.

Zuletzt waren die Türkei und die EU nur noch bemüht, einen offenen Bruch zu vermeiden. Nun, in der Krise der Gezi-Unruhen, zeigt sich deutlich, wie dünn die Bande geworden sind. Die Türkei sieht sich als aufstrebende Regionalmacht, deren Wirtschaftsboom und politische Stärke immer weniger von Europa abhängt. Nicht die Türkei brauche die EU, sondern andersherum, betonte EU-Minister Egemen Bagis mit Blick auf den Widerstand gegen die Eröffnung des neuen Verhandlungskapitels. Notfalls wisse die Türkei, was sie zu den Europäern zu sagen habe: „Schwirrt ab.“

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