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Vor dem kroatischen Parlament hängen die EU-Flagge und die kroatische Flagge schon seit zehn Jahren nebeneinander.

© dpa

EU-Beitritt: Warum noch Europa, Kroatien?

Heute stimmt der Bundestag über den EU-Beitritt Kroatiens ab. Die Kroaten haben zehn Jahre um die Aufnahme gekämpft. Im Juli ist es endlich so weit – und sie landen mitten in der Krise.

Mario Sever hat keine Angst vor holländischen Tomaten. Es ist Samstagmittag, auf dem ältesten Markt in Zagreb, dem Dolac, drängen sich die Menschen. Es riecht nach Fisch, Fleisch, Gewürzen, Blumen und frischen Zwiebeln. Der Stand von Sever ist nicht groß, drei Klapptische nur. Er hat eine Waage aufgestellt und einen roten Sonnenschirm. Fast könnte man den Mann im blauen T-Shirt übersehen zwischen den hunderten Ständen. Doch während sich beim Nachbarn noch das Gemüse türmt, sind Severs Kisten leer. „Alles verkauft“, sagt er und lacht. Mario Sever ist so etwas wie die Zukunftshoffnung Kroatiens.

Am 1. Juli wird das Land an der Adria das 28. Mitglied der Europäischen Union. Zehn Jahre haben die Kroaten auf diesen großen Tag hingearbeitet, haben ihr gesamtes Wirtschafts- und Rechtssystem auf den Kopf gestellt. Sie wollten unbedingt dazugehören, waren gekränkt, dass sie 2004 und 2007 noch nicht dabei sein durften, als Europa seine Ost-Erweiterung feierte. Doch jetzt, da es endlich so weit ist, steckt die EU tief in der Krise. Die Briten denken sogar laut übers Austreten nach und die Kroaten sollen jubeln? Sie wissen nicht mehr, ob sie sich nun auf die EU freuen oder sich vor ihr fürchten sollen.

Sever freut sich. Dass die Menschen auf dem Dolac ausgerechnet bei ihm Schlange stehen, hat einen Grund: Er ist der einzige bekannte Bio-Bauer Kroatiens. Seine Familie hat Stände auf zwei Freiluftmärkten, drei Geschäfte in Zagreb und sie exportiert nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. „Für uns wird im Juli im Ausland vieles leichter“, sagt er. Er wird dann keine Zölle mehr zahlen müssen. Mehr Konkurrenz zu Hause schreckt ihn nicht. „Das billige Gemüse aus Gewächshäusern kann mit uns nicht mithalten. Unsere Sachen sind gesünder und günstig genug.“ Außerdem könnten die Holländer auch mit viel Technik keine kroatischen Nüsse oder bestimmte heimische Salate züchten, da ist er sich sicher.

Sever, der Bio-Pionier, erzählt eine Erfolgsgeschichte, die die Menschen in Kroatien gerade nur zu gerne hören. Deshalb ist auch das Fernsehen regelmäßig zu Besuch auf seinen Feldern nahe Zagreb. Mit 27 verlor der gelernte Architekt seinen Job, wie so viele Kroaten seit den 90er Jahren. Das ist jetzt 15 Jahre her. Freunde bekamen mit, dass er und seine Frau hobbymäßig Gemüse ohne Pestizide anpflanzten. Die erzählten es ihren Nachbarn und die wiederum den Nachbarn der Nachbarn. Inzwischen bewirtschaften die Severs 100 Hektar Land, haben ihre eigene Fanseite bei Facebook und halten Vorträge an Universitäten über ökologischen Anbau. Die Severs sind jetzt eine Marke.

„Branding“, das ist so ein Lieblingswort der kroatischen Wirtschaftsexperten. Sie sagen, Kroatien brauche endlich ein Geschäftsmodell, müsse klar für etwas stehen. Den 4,5 Millionen Kroaten geht es nicht gut, das Land erlebt das fünfte Jahr Rezession in Folge, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Sie suchen nach Ansätzen, die auf dem EU-Markt bestehen können, wenn am 1. Juli die Zollgrenzen fallen und neue Regeln gelten. Oder wie die Leute auf dem Dolac sagen: wenn Aldi und die holländischen Tomaten kommen.

Wein kostet in Kroatien zwischen neun und zehn Euro die Flasche

Die drohenden Schwierigkeiten mit dem europäischen Wettbewerb zeigen sich nur wenige Schritte von Severs Gemüsestand entfernt, in einer Filiale der kroatischen Supermarktkette Konzum. Hier stehen ausschließlich kroatische Weine im Regal. Eine Flasche kostet umgerechnet so zwischen neun und zehn Euro. Die Anbaugebiete sind sehr klein und die Konkurrenz bisher ebenfalls. Viele ausländische Produzenten werden noch von hohen Zöllen abgeschreckt. Das wird bald anders sein. Die Kassiererin schüttelt den Kopf: „Sie können sich ja denken, was passiert, wenn hier bald italienische Weine stehen, die drei Euro kosten.“

Kroatien, das ist die Gegend rund um die Hauptstadt Zagreb, das Hinterland Richtung Serbien mit viel Wald und Landwirtschaft – und der lange Streifen am Mittelmeer, den viele Deutsche aus dem Urlaub kennen. Der Tourismus macht inzwischen rund 18 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus, die Branche wächst und wächst. Doch die Kroaten wissen, dass sie auf den Tourismus allein keine Zukunft aufbauen können. Sie haben dadurch höchstens sechs Monate im Jahr Arbeit und irgendwann kippt ein Öltanker um und dann bricht alles zusammen – so beschreibt es ein leitender Mitarbeiter einer deutschen Bank, der Investoren aus dem Ausland in Kroatien betreut. „Pharmazie und Öko- Landbau, das könnten Zukunftsbranchen sein“, sagt er. „Außerdem hat Kroatien enorm viel Wald, das ist ein echter Schatz.“

Nachtleben in Zagreb.
Nachtleben in Zagreb.

© ullstein bild

Auf die Investoren aus dem Ausland hoffen viele Kroaten. Doch bisher ist das Interesse nicht besonders groß, und es ist fraglich, ob der EU-Beitritt daran etwas ändert. Kroatien ist kein Billiglohnland, der bürokratische Aufwand und die Steuern sind hoch. Neun von zehn kroatischen Firmen haben weniger als zehn Mitarbeiter. Die restlichen sind dagegen riesig, vor allem die staatseigenen Unternehmen. 40 000 Menschen arbeiten allein in der staatlichen Forstverwaltung und 30 000 bei den staatlichen Schiffswerften. Die Kolosse sind Überbleibsel der sozialistischen Vergangenheit Kroatiens. Eine Bedingung für den EU-Beitritt war, dass die Kroaten die Werften privatisieren, dort drohen nun bald Massenentlassungen. Das lässt die Menschen nicht gerade vor Begeisterung mit EU-Fähnchen wedeln.

Doch die Wirtschaftsleute sind nicht die Einzigen, die den 1. Juli im Kalender rot eingekreist haben. Ein paar Stufen unterhalb des Dolac an der Tramhaltestelle wartet Marina Skrabalo. Sie hat es eilig. Die junge Frau mit den schwarzen Locken arbeitet für die kroatische Nichtregierungsorganisation „Gong“. In ein paar Minuten beginnt eine internationale Konferenz, Skrabalo wird Kollegen aus Ländern wie der Türkei, Mazedonien oder Serbien von ihren anstrengenden und aufregenden letzten Jahren erzählen. „Ich bin stolz auf das, was wir geschafft haben“ , sagt sie, während sie durch die Lobby des Westin-Hotels hetzt und mit dem Aufzug zum Tagungsraum im 17. Stock fährt. Unter ihr breitet sich das Panorama der Hauptstadt aus.

Skrabalo hat bei „Gong“ immer wieder Berichte für das Europaparlament geschrieben, angeprangert, wenn Gesetze im Menschenrechtsbereich nur stockend umgesetzt wurden. „Unser Staat ist in den vergangenen zehn Jahren anständig geworden“, sagt sie. Es gebe weniger Korruption, die Regierung müsse sich den Leuten viel stärker erklären. „Wir sind auf einem guten Weg“, sagt Skrabalo. Dann runzelt sie die Stirn und deutet aus dem Fenster zum Parlament. Der Beitritt war immer ein gutes Druckmittel für die Aktivisten, sagt sie. „Ich fürchte aber, es wird hier einige Politiker geben, die sich nach dem Beitritt ausruhen. Unsere Arbeit wird dann wieder sehr viel schwerer werden.“

Vor dem Parlament, auf das Skrabalo gezeigt hat, hängen die EU-Flagge und die kroatische Flagge schon seit zehn Jahren nebeneinander. „Eigentlich gehören wir hier schon immer zur EU“, sagt der Sozialdemokrat Tonino Picula. „Wir haben schon Österreich-Ungarn gegen die Osmanen verteidigt.“ Er hat in der Mittagswärme das Jackett über die Stuhllehne in seinem Büro gehängt und lacht. Aber er lässt keinen Zweifel daran, dass die Kroaten die „Rückkehr nach Europa“ als historische Selbstverständlichkeit ansehen. Sie betrachten sich nicht als Teil des Balkans, zu dem sie wegen ihrer Jugoslawien-Vergangenheit von vielen Westeuropäern gezählt werden. „Für unser Land ist der Beitritt zur EU unglaublich wichtig“, sagt er. „Nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem auch ideell.“ Er ist für die Kroaten quasi die Verlängerung ihrer Unabhängigkeit von 1991.

Picula ist einer von zwölf neu gewählten kroatischen EU-Parlamentariern. Er ist in Brüssel schon bestens vernetzt und will jetzt endlich loslegen. Er sagt, er wolle sich dafür einsetzen, dass Kroatien die Mittel aus den EU-Fonds als Mitglied der Europa-Familie auch wirklich abrufe. Rund 655 Millionen Euro sind im ersten Halbjahr für Kroatien im EU-Haushalt vorgesehen. Viel Geld für das kleine Land. Seit Monaten diskutieren die kroatische Presse und die Politiker darüber, wie es verwendet werden soll. „Die Leute müssen aber verstehen, dass uns das Geld nicht einfach überwiesen wird“, sagt Picula. „Man kriegt es nicht, man kann es kriegen, wenn man die richtigen Projekte vorweist. Das ist ein großer Unterschied.“ Er denkt da zum Beispiel an die kroatische Eisenbahn, denn bisher kann man Kroatien nur mit dem Auto anständig durchqueren. Die Sorgen von Marina Skrabalo, es könne nach Juni Rückschritte bei den Reformen geben, kann er nicht verstehen. „Die haben doch nur Sorge, dass sie jetzt nicht mehr so wichtig sind“, sagt er. Dann hebt er beide Hände und macht Schnappbewegungen: „Die fressen an der Europa- Begeisterung, von links die NGOs und von rechts die Nationalisten. Vor allem die Rechten!“

Kroatische Hardliner waren gegen den EU-Beitritt - und sitzen bald trotzdem im EU-Parlament

Eine rechte Hardlinerin sitzt im kroatischen Parlament zwei Flure über ihm und im EU-Parlament vielleicht bald nur ein paar Sitzreihen entfernt. Ruza Tomasic ist bekennende Nationalistin, eine, die mit Sprüchen gegen die serbische Minderheit beim rechten Rand punktet. Die blonde Frau mit dem goldenen Kreuz um den Hals drückt einem die Hand so fest, dass es schmerzt und bietet gleich mal das Du an. „Es stimmt, ich habe mit Nein gestimmt. Gegen die EU“, sagt sie über das Referendum, mit dem 2012 zwei Drittel der Kroaten den Weg für den EU-Beitritt frei machten. Als die Menschen Ruza Tomasic trotzdem ins EU-Parlament gewählt haben, hat der kroatische Regierungschef Zoran Milanovic die Frau eine „Naturkatastrophe“ genannt.

Tomasic hat eine typische kroatische Auswanderer-Biografie. Als eins von acht Kindern einer armen Familie folgte sie ihrer Schwester nach Kanada. Dort schrieb die heute 55-jährige Polizistin Geschichte: Sie war 1981 die erste Frau, die auf einer Harley Streife fuhr. Sie erzählt gerne von Kanada und davon, wie sie die „Liebe zur Heimat“ nie verloren hat. Um diese Heimat fürchtet sie jetzt. „Es gibt auf lange Sicht keine Alternative zur EU. Aber jetzt sind wir einfach noch nicht reif dafür.“ Der gnadenlose Wettbewerb werde über Kroatien hereinbrechen, prophezeit sie, und die offenen Grenzen behagen ihr auch nicht wirklich.

Eigentlich will Tomasic auch nur mal schauen, wie das so läuft im Europaparlament, sagt sie später. Die EU sei für die Kroaten bisher doch nur ein Projekt der Elite. „Die meisten hier wissen nicht Bescheid.“ Sie selbst war erst zweimal zu Besuch in Brüssel. Sie zögert kurz und zieht dann einen Plan aus der Schreibtischschublade, der die Sitzverteilung des EU-Parlaments zeigt. „Wo soll ich mich bloß dazusetzen?“, fragt sie und deutet vage auf den Block Europäische Volkspartei, zu dem auch die deutsche CDU gehört. „Ich bin doch rechter als die alle.“

Und die Nationalistin kommt an. Bei der Wahl der EU-Abgeordneten Mitte April, die eine extrem niedrige Wahlbeteiligung von nur 20 Prozent hatte, bekam sie alleine umgerechnet etwa acht Prozent der Stimmen. In einem Café unterhalb des Parlaments klatschen zwei ältere Frauen bei ihrem Namen begeistert in die Hände. „Die Ruza ist eine Gute“, sagen sie. Das mit der EU sei ihnen doch auch sehr suspekt. Diese offenen Grenzen, sagt die eine und die andere nickt. „Was machen wir, wenn die Bulgaren und Rumänen kommen?“, fragt sie und reißt ängstlich die Augen auf. „Hier gibt es doch so schon keine Arbeit.“ Die beiden Frauen haben auch deshalb Tomasic gewählt, weil die sagt, es sei nicht die Schuld der einfachen Kroaten, dass sie beim EU-Beitritt nicht durchblicken. Ein Beitritt, der zum Beispiel nicht automatisch bedeutet, dass die Kroaten auch ungehindert im EU-Ausland arbeiten können. Die meisten EU-Staaten werden die Arbeiter aus dem neuen Mitgliedsland für mindestens zwei Jahre sperren. Wohl auch Deutschland. Da runzeln die alten Damen doch die Stirn. Ausgerechnet Deutschland?

Die Deutschen sind in Kroatien extrem beliebt

Die Deutschen haben in Kroatien einen extrem guten Ruf, in Umfragen sind sie die beliebteste Nationalität nach den Kroaten selbst. Vielleicht ist es diese große Liebe zu Deutschland, die Verbundenheit durch die Gastarbeiter in den 60er Jahren, die Unterstützung der Deutschen bei der kroatischen Unabhängigkeit in den 90er Jahren, die auch Michael Haußner nach Zagreb geführt hat. Der pensionierte thüringische Staatssekretär arbeitet als deutscher Berater für das kroatische Justizministerium. Er ist überaus höflich und erscheint sogar zum Stadtspaziergang im Anzug samt Krawatte und goldenen Manschettenknöpfen.

Haußner gibt nur Rat, wenn er gefragt wird. Und gerade deshalb wird er gefragt. Er hat geholfen, die neuen Rechtsvorschriften in der Justiz umzusetzen, dicke Kataloge voll. Das Regelwerk der Europäischen Union hat insgesamt rund 90 000 Seiten, sie sind bisher noch nicht einmal komplett auf Kroatisch übersetzt worden. „Kroatien macht seine Sache gut“, sagt Haußner, als er vor der Mittagssonne in ein schattiges Café flüchtet und klingt dabei ehrlich beeindruckt. Einen unabhängigen Richterrat gebe es jetzt zum Beispiel, da sei das Land weiter als so manches Mitgliedsland der EU.

Alle Tische des Cafés sind besetzt. Das ist in den meisten Cafés in Zagreb so, auch unter der Woche, auch früh am Morgen. Als Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit vor kurzem zu Besuch war, soll er den Zagreber Bürgermeister gefragt haben: „Arbeitet hier denn überhaupt jemand?“ Die Kroaten erzählen sich die Geschichte mit einem Lächeln, denn Wowereit hat das witzig gemeint. Doch die Menschen hier machen nicht nur Pause. Viele haben wirklich nichts, wo sie sonst hingehen können und halten sich den ganzen Tag an einem Glas Wasser fest. Die Kellner lassen sie trotzdem sitzen. Viele hier sind sehr jung. Mit knapp 50 Prozent ist Kroatien ab Juli nach Spanien der Staat mit der zweithöchsten Jugendarbeitslosigkeit der EU.

Die jungen Kroaten gehen anders als die Griechen und Spanier nicht auf die Straße. Manche hoffen auf Juli, doch die meisten, das zeigt eine Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung, verlieren das Interesse an der Politik. Europa-Enthusiasten muss man unter den Jungen lange suchen. Doch noch gibt es sie. Spätabends sitzt eine Gruppe Freunde vor der Kneipe „The Hole Pub“, drinnen spielt eine Liveband, aber das interessiert sie nicht wirklich. Sie diskutieren. „Die EU ist unser Weg, also werden wir das Beste daraus machen“, sagt schließlich einer von ihnen. Diesem Satz jedenfalls würden sie wohl alle zustimmen: Mario Sever auf dem Bauernmarkt, die Aktivistin Maria Skrabalo im Tagungshotel und der Sozialdemokrat Tonino Picula im Parlament. Und die Rechte Ruza Tomasic schaut sich das Ganze zumindest mal an.

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