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Kanzlerin Angela Merkel umringt von anderen europäischen Regierungschefs in Brüssel.

© dpa / OLIVIER HOSLET

EU-Gipfel mit der Türkei: Die Grenzen der Realpolitik

Es ist richtig, wenn die Europäer Flüchtlinge direkt aus der Türkei übernehmen. Aber es ist falsch, die EU-Beitrittsgespräche mit Ankara zu intensivieren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Albrecht Meier

Eines hat der Brüsseler Gipfel gezeigt: Die Flüchtlingskrise wird für die Europäer zunehmend zu einem Lehrstück in Sachen Realpolitik. An einer Zusammenarbeit mit der Türkei, einem innenpolitisch instabilen Partner vor den Toren der EU, führt leider kein Weg vorbei. Allerdings sollten die EU-Partner sich in den kommenden Tagen, die den endgültigen Durchbruch in den Verhandlungen mit Ankara bringen sollen, über einige Grundsätze klar werden, die sie nicht über Bord werfen sollten.

Von einem Gelingen der Zusammenarbeit mit der Türkei hängt zunächst einmal viel für Deutschland als wichtigstem Zielland der Migranten ab. Wenn sich Ankara tatsächlich verpflichten würde, sämtliche Migranten aus Griechenland zurückzunehmen, würde die Balkanroute faktisch ausgetrocknet. Der bizarre Gipfelstreit, ob die Route nun „geschlossen“ ist oder nicht, wäre Schnee von gestern – weil nun die EU-Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei zum Bollwerk für die Migranten würde.

Genauso richtig ist auch die zweite Überlegung der Kanzlerin und Ankaras Regierungschef Ahmet Davutoglu, dass die Europäer der Türkei syrische Flüchtlinge im Gegenzug abnehmen und ihnen die gefährliche Überfahrt über die Ägäis ersparen. Im Kern gleicht diese Idee einem Vorschlag zur Übernahme von Kontingent-Flüchtlingen, wie ihn auch Innenminister Thomas de Maizière im vergangenen Jahr schon einmal gemacht hat.

So weit, so vernünftig. Allerdings steht Merkel weiterhin vor der Schwierigkeit, die EU-Partner davon zu überzeugen, dass eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise nur mit einer gemeinsamen solidarischen Anstrengung zu lösen ist. Wie die Flüchtlingskontingente aus der Türkei unter den EU-Staaten fair verteilt werden sollen, steht weiterhin in den Sternen.

Problematisch ist der sich anbahnende Deal mit der Türkei auch deshalb, weil sich die Europäer damit auf Gedeih und Verderb dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auszuliefern drohen. Nach der überraschenden Wende auf dem Brüsseler Gipfel ist es auf einmal die Türkei und nicht mehr Griechenland, die eine Schlüsselrolle bei der Verteilung der Flüchtlinge in die übrigen EU-Staaten übernehmen soll. Redet eigentlich überhaupt noch jemand von den „Hotspots“ in Griechenland, die eigens zur Registrierung der Flüchtlinge aufgebaut wurden?

Bei aller realpolitischen Nüchternheit, die im Umgang mit der Flüchtlingskrise geboten ist, wirft die Teil-Einigung von Brüssel zahlreiche Fragen auf. Die entscheidende lautet: Ist es richtig, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei wieder just zu einem Zeitpunkt zu intensivieren, zu dem Ankara die Pressefreiheit mit Füßen tritt? Jahrelang sind die Beitrittsverhandlungen sowohl auf europäischer Seite als auch in Ankara in dem Wissen geführt worden, dass sie auf absehbare Zeit nie zum Ziel führen werden. In den vergangenen Jahren hat es sich zunehmend als Lebenslüge der EU erwiesen, die Türkei auf dem Weg der Beitrittsgespräche gewissermaßen auf den hiesigen Stand von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie hieven zu können. Die Flüchtlingskrise sollte kein Anlass sein, aus dieser Lebenslüge einen permanenten europäischen Selbstbetrug zu machen.

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