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Politik: EU-Osterweiterung: Wenn der Osten in die Mitte rückt wird sich die ostdeutsche Gesellschaft verändern - zum Besseren (Kommentar)

Zehn Jahre Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion - das ist eine gemischte Erfolgsbilanz, Anlass genug, einen Blickwechsel vorzunehmen.Die bisherige Politik der Angleichung war eine der Anpassung des schlechter entwickelten Ostens an den erfolgreichen Westen Deutschlands.

Zehn Jahre Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion - das ist eine gemischte Erfolgsbilanz, Anlass genug, einen Blickwechsel vorzunehmen.

Die bisherige Politik der Angleichung war eine der Anpassung des schlechter entwickelten Ostens an den erfolgreichen Westen Deutschlands. An gesamtdeutschen Reformbedarf wurde nicht gedacht. Inzwischen ist klar: Der gesamtdeutsche Staat ist zu Reformen gezwungen, an denen alle Bürger und alle Länder gleichermaßen mitwirken. Ostdeutschland muss nun nicht mehr nur nachvollziehen, was im Westen bereits geregelt ist, sondern kann auch voran gehen.

Seit 1990 liegt Ostdeutschland an der Außengrenze der Europäischen Union. Das wird sich in absehbarer Zeit ändern, wenn Polen und Tschechien Mitgliedsstaaten werden. Ostdeutschland wird vom Beitrittsgebiet und vom Grenzraum zu einer Region in der Mitte der EU. Das ändert die Lage und damit auch die Prioritäten bei Zukunftsinvestitionen. Bei einer Philosophie "Vom Beitrittsgebiet zur Europäischen Verbindungsregion" geht es um die strategische Bedeutung transeuropäischer Verkehrsprojekte - und zwar nicht nur auf der Ost-West-Achse, sondern auch Nord-Süd. Es geht um die Förderung von Dienstleistungseinrichtungen, die sich auf neue Produktions- und Austauschbeziehungen in Europa spezialisieren, und um die Schaffung von Zentren des wissenschaftlichen Austauschs und der Zusammenarbeit zum Beispiel durch den Hochschulausbau. Wir werden uns verstärkt an vergleichbaren europäischen Regionen von Irland bis Finnland orientieren und uns für die Anwendung der dort erfolgreichen Wirtschaftsförderinstrumente interessieren müssen.

Der Perspektivenwechsel vom "Beitrittsgebiet" zur "Europäischen Verbindungsregion" kann nicht auf das Ziel der Angleichung des Ostens an den Westen verzichten, weil sie eine Bedingung ist, die sich aus der Rechtsordnung, aber auch im Interesse der sozialen Balance im Lande ergibt. Aber die veränderte Perspektive bedeutet einen Gewinn in jedem Fall, in dem Ostdeutschland selbst eigene Vorteile einbringen kann, die es im europäischen Vergleich hat. Der Verzicht auf die alleinige Messlatte Westdeutschland kann das Selbstbewusstsein im Osten stärken, vor allem in jener Generation, die durch die Erfahrungen des Umbruchs Kompetenzen im flexiblen Umgang mit schwierigen Herausforderungen erworben hat, die im europäischen Erweiterungsprozess an Bedeutung gewinnen. Diese Dimension der Zukunft hat hier schon begonnen: Ostdeutsches Know-how für den Weg nach Europa wird gefragt sein.

Diese veränderte Zukunftsperspektive löst nicht die bekannten finanziellen Probleme. Die Größenordnung der nötigen öffentlichen Investition liegt unstrittig bei 300 Milliarden Mark. Aber es ergeben sich neue Schwerpunkte der Förderung. Sie muss auf die regionalen Fähigkeiten setzen, die zur veränderten Perspektive passen: Informationstechnologie, regionale ökologische Modernisierung, andere Zukunftstechnologien und damit die Stärkung der Forschungskapazitäten, weil die ostdeutsche, vornehmlich mittelständische Wirtschaft auf Kooperation mit Wissenschaft und Forschung angewiesen ist.

Das derzeitige Zurückbleiben des Ostens würde dagegen auf die Dauer den Schwerpunkt der Transfers auf die Sozialleistungen legen. Das ist nicht nur ökonomisch unsinnig, sondern schließt immer mehr Menschen in Ostdeutschland aus der Gesellschaft aus. Eine Kehrseite dieser Entwicklung sind reaktionäre Tendenzen in der ostdeutschen Gesellschaft - und die nostalgische Verklärung der DDR ist dabei durchaus die harmlosere. Viel gefährlicher ist die Tatsache, dass egalitäre Orientierungen auch Konformitätserwartungen erzeugen, die nicht nur soziale Unterschiede schwer ertragen, sondern auch kulturelle Differenzen in Lebensform und Wertorientierung nicht tolerieren.

Dies kann zum größten Hindernis für die Zukunft Ostdeutschlands werden. Fremdenhass und nationalistischer Gruppenegoismus sind politische und geistige Verwerfungen, die sich im Gefolge einer autoritären Prägung und einer nachfolgenden Unterwerfungshaltung unter "den Westen" nun als pure Reaktion breit machen.

Dieser Trend, der aus der Mitte der Gesellschaft heraus erwächst, muss auch aus der Mitte der Gesellschaft bekämpft werden. Dazu wird es entscheidend sein, die Menschen im Osten bei ihrem Selbstbewusstsein anzusprechen, es zu stärken, um Konfliktfähigkeit und Toleranz zu erhöhen. Das bedeutet auch, alles zu tun, damit Ostdeutsche ihre Lebensleistung, ihren Gestaltungswillen und ihre Verantwortung für die Gesellschaft wieder ernst nehmen und darin ernst genommen werden. Die deutsche Vereinigung wird dann erst vollendet sein.

Die außerordentliche Lernfähigkeit, die die meisten Menschen in Ostdeutschland in den letzten zehn Jahren unter Beweis gestellt haben, berechtigt zu der Hoffnung, dass ihre Erfahrungen in einer Zukunft der Umbrüche gebraucht werden. Und wenn sie das Selbstbewusstsein wiedergewinnen, werden sie auch diese extremistischen Tendenzen überwinden.

Wolfgang Thierse

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