zum Hauptinhalt
Komplex: Das Europäische Parlament in Brüssel hat ein eigenes Science-Center - das "Parlamentarium".

© Olivier Hoslet/pa-dpa

Europa - mein scHmERZ: Das zu große Bild

Europa ist riesig - sein Parlament, die Menschen unterschiedlichster Herkunft, die Lobbys, die Gesetze: Zu viel für ein einfaches Bild. Plädoyer der Schriftstellerin Kathrin Röggla für das Experiment Europa.

Ständig ist da dieses zu große Bild, diese Größe, an die man nicht heranreicht. Weit weg, erhaben oder auch technokratisch versiegelt, stets schon beschlossen. Das Schimpfen auf die Kommission, auf Merkelsche Austeritätspolitiken bleibt zur Hand (ja, es sind gar nicht mehr die Absurditäten von Gemüsekrummheitsgraden und anderen bürokratischen Gespenstern, heute sind es die Troika und die Sparkurspolitiken). Das zu große Bild begleitete mich schon lange, ich hielt mich jahrelang für unfähig, auch nur einen vernünftigen Satz zu Europa zu verfassen.

Und dann bin ich 2013 einmal aus Recherchegründen zum Europäischen Parlament gefahren, nach Brüssel, (nur einmal pro Woche wird in Straßburg getagt), um einen sogenannten Hauptberichterstatter zu treffen. Es ging um die europäische Fluglärmrichtlinie, und ich war eingeschworen von hessischen und rheinland-pfälzischen Bürgerinitiativen auf die lobbyistischen Strukturen in Brüssel: Im selben Haus säßen Lufthansa und die Landesvertretung von Hessen – kein Wunder!

Sie, die realen Bürger, müssten mühsam zusammenlegen und könnten hie und da mal nach Brüssel fahren, um sich Gehör zu verschaffen, also da herrsche doch die blanke Asymmetrie. Was mir dann widerfuhr, war eine Robert-Menasse-artige Erfahrung (es sei hier kurz an seinen euphorischen „Europäischen Landboten“ erinnert). Ein leichter Schwindel erfasste mich im Gebäude des Parlaments, in den Gängen, den Büros und der Mensa, all diese debattierenden und engagiert wirkenden Menschen unterschiedlichster Herkunft und mit unterschiedlichsten Merkmalen ihrer Milieus.

Wenn es nur weiterginge, wenn das Parlament nur mächtiger wäre!

Zu groß? Viele Wege führen ins und durchs Europäische Parlament in Brüssel.
Zu groß? Viele Wege führen ins und durchs Europäische Parlament in Brüssel.

© Fritz Schumann/dpa, pa-ZB

Eine positive Grundstimmung, an die ich mich erinnerte, als ich kürzlich David Bernets Dokumentarfilm „Democracy – Im Rausch der Daten“ von 2015 über das Zustandekommen der Datenschutzrichtlinie sah. Die Intensität der Diskussion, selbst der Moment der Stagnation in der Gesetzgebung hatten etwas Mitreißendes. Wenn es nur weiterginge, denkt man, wenn das Parlament nur mächtiger wäre!

Aber ständig ist da dieses zu große Bild, die realen Machtverhältnisse, das Kommissionseuropa, das Ratseuropa, der IWF. Kürzlich sprach Gesine Schwan in der Akademie der Künste bei der Ausstellung „Uncertain States“ über Europa. Auch sie grub am zu großen Bild – von einer anderen Seite. Die Möglichkeiten lägen mehr in den Kommunen, die man stärken sollte. Sehr plausibel. Sie erscheinen zumindest ökonomisch auf absurde Weise geschwächt, und von den Nationalstaaten ist nicht viel zu erwarten. Die Regierungen spielen, im Wettbewerb befindlich, das sogenannte Europaspiel. Entweder Europa wird zum Buhmann oder zum Steigbügelhalter der eigenen Pläne.

Statt eines zu großen Bildes: Ein Experiment!

Man wies auf das neue Buch der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hin und ihr republikanisches Verständnis von Europa. Ein Experiment, das es zu wagen gelte, lese ich da. Ein Experiment statt eines zu großen Bildes, das erscheint mir zwar schwierig, aber vielleicht ist es notwendig in einer Zeit, in der die eingebildete europäische Geschichte in den Startlöchern sitzt.

Die vermeintlichen Ursachen des Untergangs des Römischen Reiches verbinden sich mit den gegenwärtigen Interessen von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten. Wir stehen vor dem immensen Problem der Selbstbarbarisierung Europas, ein Vorgang, der klarmacht: Das europäische Bild ist zu groß, darf aber nicht kleiner, sondern muss noch größer werden, denn wir kommen nicht umhin, unsere Geschichte neu kennenzulernen, gerade als Kolonialgeschichte, während wir gleichzeitig für dieses politische Projekt kämpfen müssen.

Es muss eine neue europäische Plausibilität entstehen. Dafür bräuchte es allerdings, wie mir der Filmemacher Christoph Hochhäusler kürzlich erklärte, ein europäisches Medium oder mehrere. Eine gemeinsame Öffentlichkeit, für die und in der gemeinsam gestritten werden kann. Wie könnte so etwas aussehen? Lasst uns mal überlegen und das zu große Bild endlich bewohnbar machen!

Kathrin Röggla, Schriftstellerin und Theaterautorin und Vizepräsidentin der Akademie der Künste.
Kathrin Röggla, Schriftstellerin und Theaterautorin und Vizepräsidentin der Akademie der Künste.

© Reiner Zensen/Imago

Kathrin Röggla, 45, ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste Berlin. Zuletzt ist ihr erschienen ihr Buch „Nachtsendung“ bei S. Fischer.

Kathrin Röggla

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false