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Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament, der Italiener Gianni Pittella.

© dpa

Europa nach den Anschlägen von Brüssel: "Wir kämpfen gegen den Terrorismus 2.0"

Manche Regierungen in der EU gehen blind davon aus, dass sie die globale Bedrohung durch den Terror im Alleingang bewältigen könnten. So lautet die Kritik von Gianni Pittella, des Fraktionschefs der Sozialdemokraten im Europaparlament. Im Interview mit EurActiv fordert der italienische Politiker die Schaffung eines europäischen Nachrichtendienstes.

Die EU-Justizminister haben sich in der vergangenen Woche nach den Attentaten von Brüssel darauf geeinigt, europaweit eine Gruppe nationaler Anti-Terror-Experten ins Leben zu rufen. Diese Gruppe soll die europäische Polizeibehörde Europol bei ihrer Arbeit unterstützen. Reicht das aus als Antwort auf die derzeitigen Bedrohungen?

Das kann gar nicht ausreichen. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es bleibt noch viel zu tun, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Paradoxerweise könnten sich die Terrorismusgefahr und die Flüchtlingskrise als Chance erweisen, Europa endlich in eine vollständige politische Union zu verwandeln. Abgesehen von den blamablen, offensichtlichen Defiziten der belgischen Dienste müssen wir die Verantwortlichkeit klar bei den nationalen Regierungen suchen, die glauben, dass sie die globalen Bedrohungen allein angehen könnten. Geheimdienstinformationen werden noch immer aus Neid zurückgehalten und nicht mit den Partnern geteilt. Dieser Mangel an Kooperationsbereitschaft ist durch nichts zu rechtfertigen. Er entspringt derselben stumpfsinnigen Einstellung, die auch einen gesamteuropäischen Ansatz in der Flüchtlingskrise verhindert. Je eher wir erkennen, dass mehr europäische Integration nötig ist, desto besser werden wir unsere Bürger und ihre Freiheit beschützen können.

Manche bestehen darauf, dass eine erfolgreiche Anti-Terror-Strategie nicht von der Polizei, sondern von den Nachrichtendiensten umzusetzen ist. Wie stehen Sie dazu?

Ich sehe das ganz genauso. Sicherheit ist zweifellos ein Bürgerrecht. Angesichts von Tragödien wie den Anschlägen in Brüssel und Paris sollten die europäischen Spitzenpolitiker unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit die nationalen Egoismen vergessen. Sie müssen einen europäischen Nachrichtendienst schaffen. Europol verfügt über großes Potenzial. Die Datenbank des europäischen Polizeiamts ist ein einzigartiges und starkes Plus für Europa. Wie müssen die Zusammenarbeit mit nationalen Nachrichtendiensten stärken. Dabei sollten wir mit dem Austausch von Daten beginnen. In diese Richtung gehen auch die Vorschläge des italienischen Premierministers Matteo Renzi. Leider scheint die Idee einer gemeinsamen Anti-Terror-Strategie nur zu halbherzigen Reaktionen zu führen. Die polnische Regierung hat die Tragödie von Brüssel für sich genutzt, um zu verkünden, dass Warschau keine Flüchtlinge aufnehmen würde. Dieser Ansatz wird in eine Sackgasse führen. Vielleicht dauert es ein bisschen, aber die einzig mögliche Antwort auf diese Herausforderungen ist mehr Europa und vor allem ein politischeres Europa.

Seit den Pariser und Brüsseler Anschlägen findet aber im Gegenteil offenbar die Idee Zuspruch, Grenzen zu schließen und das Abkommen von Schengen, das Reisen ohne Kontrollen vorsieht, auszusetzen.

Ich würde unsere vielen kleinen Trumps in Europa gern mal fragen, inwiefern das Aussetzen des Schengen-Abkommens terroristische Anschläge in Europa verhindern soll. Wir mussten leider die Erfahrung machen, dass diese Terroristen aus Europa stammen – junge Menschen, die in unseren Vorstadt-Ghettos groß geworden sind. Wir müssen uns selbst die Frage stellen: Warum wenden sich junge Europäer dem Fundamentalismus und Terrorismus zu? Wir müssen unser Modell der kulturellen Integration verbessern. Das können wir schaffen, indem wir Marginalisierung und soziale Ungerechtigkeiten bekämpfen. Das sind die Wurzeln von Hass und Gewalt. Als Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten im Europaparlament dränge ich darauf, eine integrierte Strategie zur verbesserten Sicherheit zu entwickeln. Gleichzeitig müssen wir aber auch in Kultur, Integration und die Entwicklung der weniger wohlhabenden Gegenden investieren.

Bei der Geheimdienstarbeit werden beispielsweise Satelliten genutzt, um Telefongespräche anzuzapfen. Terroristen überlisten derartige Technologien jedoch häufig. Sollte man eher einen Schritt zurückgehen und die Befehlsstrukturen terroristischer Organisationen wieder mit Spionen infiltrieren?

Wir müssen uns klar machen, dass wir gegen eine neue Art von Terrorismus kämpfen – den Terrorismus 2.0. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" hat über 50.000 verschiedene Twitter-Accounts und twittert mehr als 100.000 Mal pro Tag. Somit stellt die Organisation eine ganz neue, technologisch fundierte Bedrohung dar. In diesem Kontext sind wir weit davon entfernt, die wichtige Schlacht in den sozialen Medien und gegen die Internetpropaganda zu gewinnen. Nationale Geheimdienste und Europol verfügen nur über sehr eingeschränkte Kapazitäten, online zu ermitteln. Gleichzeitig macht sich der Terrorismus 2.0 neue Technologien zunutze, um seine Botschaften zu verbreiten und terroristische Aktivitäten zu finanzieren – Cyber-Finanzverbrechen, den Verkauf von Feuerwaffen und Menschenhandel. Auch hier muss die EU verlorene Zeit wieder gut machen. Es fehlt den Mitgliedsstaaten allerdings an politischem Willen, in einen europäischen Nachrichtendienst zu investieren.

Direkt nach den Anschlägen forderte Renzi eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit einer europaweiten Armee. Lässt sich eine solche Idee überhaupt umsetzen?

Die EU-Verteidigungsgemeinschaft ist eine Frage des politischen Willens. Es gab bereits Versuche, einen solchen Schritt zu gehen. Die ursprüngliche EVG war eine der ersten gemeinsamen Maßnahmen, die dem nationalen Egoismus zum Opfer gefallen sind. Jetzt ist diese Idee ein Teil der Initiative für eine Europäische Sicherheitsstrategie der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. Sie entspricht Renzis Forderungen und ist wichtiger Bestandteil der von uns geforderten politischen Union.

Das EU-Parlament stimmt eventuell schon im Mai über ein Register von Fluggastdaten (PNR) und Datenschutzvorschriften ab. Hierüber wird bereits hitzig diskutiert. Nach der Ansicht der Sozialdemokraten verstößt ein PNR-Register gegen das Europarecht, da persönliche Daten zu lange gespeichert würden und die Überwachung aller Passagiere vorgesehen sei. Haben Sie Ihre Meinung nach den Brüsseler Attentaten geändert?

Die Fraktion der Sozialdemokraten ist bereit, ein System zur Erfassung von Fluggastdaten zu unterstützen, sobald die europäischen Justiz- und Innenminister die Datenschutzrichtlinie genehmigen. PNR-Daten sind ein wichtiges Instrument im Kampf gegen organisiertes Verbrechen und Terrorismus. Sie sind ein positiver erster Schritt in Richtung eines europäischen Ermittlungs- und Geheimdienstrahmens. Es muss aber glasklar sein, dass die Datensätze allein nicht reichen werden, um alle unsere Sicherheitsprobleme zu lösen. Ich habe eine Frage an all diejenigen, die jetzt auf die Einführung von PNR-Datenbanken drängen: Warum ist der Austausch von Fluggastdaten zwischen den Mitgliedsstaaten im endgültigen Text nicht schon verpflichtend festgeschrieben? Wir brauchen einen besseren Informationsaustausch, wenn wir den Terrorismus ernsthaft angehen wollen. Hier gibt es also meiner Meinung nach einen großen Widerspruch. Die nationalen Regierungen und andere Fraktionen im EU-Parlament legen ein erstaunliches Maß an Scheinheiligkeit an den Tag.

Übersetzung: Jule Zenker

Erschienen bei EurActiv.

Der europapolitische Onlinemagazin EurActiv und der Tagesspiegel kooperieren miteinander.

Daniela Vincenti

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