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Politik: Europa nicht um jeden Preis

Nervosität vor dem EU-Gipfel: Die Bedingungen für die Beitrittsgespräche schmecken Ankara nicht

Seit Jahrzehnten wartet die Türkei auf diese Chance, und noch nie war sie so nah am Ziel: In einer Woche entscheidet die EU über den Beginn von Beitrittsgesprächen mit Ankara. Nach den vielen Reformen der letzten Jahre und einem positiven Zeugnis der EU-Kommission vor zwei Monaten gibt es kaum noch einen Zweifel daran, dass die EU Beitrittsverhandlungen zustimmt, wenn auch die Bedingungen dafür noch umstritten sind. Doch in der Türkei herrscht keine Vorfreude. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan werde beim Gipfel am 17. Dezember möglicherweise alles hinschmeißen und Europa den Rücken kehren, sagen einige Beobachter voraus. Eine Zurückweisung der EU ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, zu dem die Türkei mit Beitrittsgesprächen rechnen kann? Nicht ganz rational – aber auch nicht ganz unmöglich.

Immer neue Hürden würden für die Türkei aufgestellt, beklagen Politiker und Medien. Nach einer Umfrage sind fast drei Viertel aller Türken der Meinung, die EU suche nach immer neuen Ausreden, um ihr Land nicht aufnehmen zu müssen. Da in den vorbereitenden Gesprächen für den Gipfel klar geworden ist, dass Ankara einige Bedingungen schlucken muss, wenn im kommenden Jahr Beitrittsgespräche beginnen sollen, sehen sich die Türken in dieser Auffassung bestätigt.

Besonders Forderungen der Europäer im Zusammenhang mit dem Zypern-Problem haben die türkische Haltung verhärtet. Eine Anerkennung der griechischen Inselrepublik vor der Gipfel-Entscheidung am 17. Dezember komme nicht in Frage, sagt Erdogan. Ebenso wenig will die türkische Regierung es hinnehmen, wenn die EU als Verhandlungsziel etwas anderes als die Vollmitgliedschaft ins Auge fasst. Nur zum Teil erwächst Erdogans verhärtete Position vor dem Gipfel aus einer mit kühlem Kopf verfolgten Verhandlungstaktik, die darauf abzielt, in den Gesprächen mit der EU das Beste herauszuholen. Die türkische Verärgerung ist echt. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Türkei alles hinwirft“, sagt ein westlicher Diplomat.

Zu denen, die die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Ankara und der EU schon lange beobachten, gehört der türkischstämmige Grünen-Europaabgeordnete Cem Özdemir. „Diese Art von Nervosität ist nichts Neues“, kommentierte Özdemir am Freitag vor Journalisten in Berlin die düsteren Szenarien am Vorabend des EU-Gipfels. Ähnliches habe man schon im vergangenen Oktober erlebt, bevor die EU-Kommission ihre Türkei-Empfehlungen abgab, sowie am Ende des Jahres 1999, als Ankara den Status des Beitrittskandidaten bekam. Özdemir geht davon aus, dass die Türkei zu Beginn der Beitrittsgespräche Zypern werde anerkennen müssen. Gleichzeitig warnte der Grünen-Politiker Ankara davor, auf einen Beginn der Gespräche möglichst schon Anfang des kommenden Jahres zu dringen. Wichtig sei vielmehr, „dass eine Mehrheit für die Verfassung in Europa zustande kommt“, sagte Özdemir mit Blick auf das möglicherweise im kommenden Juni stattfindende Verfassungsreferendum in Frankreich. Frankreichs Präsident Jacques Chirac will vermeiden, dass das Referendum von der Türkei-Diskussion überlagert wird. Özdemir hält daher „Ende Herbst 2005“ für ein realistisches Datum für den Beginn der Beitrittsgespräche.

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