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Grenzkontrollen am Zaun zwischen Mazedonien und Griechenland am 26. Februar 2016.

© Reuters

Europa und die Flüchtlinge: Nicht Anarchie, sondern Politik in harten Zeiten

Europa fliegt in der Flüchtlingskrise nicht auseinander – sondern führt einen politischen Machtkampf. Weil das Problem dramatisch ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Der amerikanische Filmregisseur Mike Nichols hat einmal gesagt, dass er nie recht weiß, was er für Bilder zeigen soll, wenn die Beziehung glücklich ist. Für die Zeit davor, wenn sie sich kennenlernen, und für danach, wenn die Beziehung kaputt ist, fiele ihm immer viel mehr ein.

Bei der Europäischen Union ist es umgekehrt: Sie weiß nur, was sie machen soll, wenn es ihr gut geht, dann kommt Beethoven vom Band und für jeden gibt’s einen Karlspreis. Alles andere ist dann zwangsläufig eine Krise, ein Ausnahmezustand, ein Verfall der europäischen Werte. Das war während der Euro-Krise so, als Europa kurz vor dem Untergang stand, und das ist auch jetzt so, in der Flüchtlingskrise. Angesichts der Westbalkan-Konferenz, der Entscheidung der Ungarn, das Volk abstimmen zu lassen, und auch des britischen Referendums über den Verbleib in der EU, warnt Luxemburgs Migrationsminister Jean Asselborn, die EU sei dabei, „in eine Anarchie“ hineinzusteuern. Und: „Wir haben keine Linie mehr.“

Angela Merkels Linie ist heute eine ganz andere als noch vor ein paar Wochen

Europa hat in der Tat keine Linie in der Flüchtlingskrise. Anders als Asselborns Satz unterstellt, hatte es aber auch noch nie eine. Dass sich Hunderttausende auf den Weg machen könnten, hat die Union offenbar überrascht. Das ist eine Herausforderung, auf die niemand vorbereitet war, selbst im jüngsten EU-Wahlkampf war das kaum Thema. Und im Gegensatz zu Mike Nichols fällt Europa in den schwierigen Momenten nichts ein.

Europa fliegt gerade auseinander – das stimmt, wenn man eine statische Vorstellung vom Zustand des Kontinents hat. Dann sind wahlweise die Ungarn, die Polen, die Griechen, die Briten oder auch die Deutschen schuld daran, dass der alte Zustand vorbei ist. Dann sind Krisen Ausnahmezustände, die beendet werden müssen, und zwar möglichst schnell, weil sonst der Untergang droht.

Doch schon der Streit innerhalb Europas über den Umgang mit der gemeinsamen Währung eskalierte vor allem deshalb, weil es auch beim Euro nie eine gemeinsame Linie gegeben hatte. Der Euro hatte lediglich viele Jahre lang die unterschiedlichen Interessen und Erwartungen überdeckt. Die dramatischen Gipfel im vergangenen Sommer haben die Krise auch nicht gelöst, sondern nur zu einem politischen Interessenausgleich geführt.

Die Flüchtlingskrise eskaliert immer weiter, weil auch hier die Interessen in Europa ganz unterschiedlich sind. Sie sind sogar in den einzelnen Ländern noch im Fluss: Angela Merkels Linie zum Beispiel ist heute eine ganz andere als noch vor ein paar Wochen. Diese Krise ist also keine, die sich moralisch auflösen ließe. Es ist vielmehr ein politischer Machtkampf, bei dem es um Interessenkonflikte geht. Was in Europa gerade stattfindet, ist nicht Anarchie, sondern Politik in harten Zeiten.

Es geht also durchaus um etwas

Die Vorstellung, dass die Unruhe in Europa kleiner wäre, wenn die Orbans und Faymanns weniger zu sagen hätten und die Nationalstaaten zugunsten einer europäischen Zentralregierung entmachtet wären, ist naiv. In Europa ist eine politische Auseinandersetzung im Gang, die ihre Schärfe nicht so sehr durch die moralische Niedertracht der Nationalstaaten bekommt, sondern durch die Dramatik des Problems: Schließlich rechnet die Bundesregierung angeblich mit rund 3,6 Millionen Flüchtlingen bis 2020. Es geht also durchaus um etwas.

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