zum Hauptinhalt

Europawahl-Folgen: Barroso in der Klemme

Wahlpflicht und direkte Wahlen – nur zwei der neuen Ideen, um Euphorie für Europa zu wecken. Die Wahl des Kommissionspräsidenten wird aber auch ohne Reform spannend

Wie umgehen mit der Europamüdigkeit der EU-Bürger? Am Tag zwei nach der Europawahl, bei der die Beteiligung einen neuen Tiefstand erreichte, kann man dazu von deutschen Politikern allerlei Vorschläge hören.

Eine Wahlpflicht mit einem Strafgeld von 50 Euro forderte etwa der SPD-Politiker Jörn Thießen am Dienstag via Bild-Zeitung. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Gunther Kriechbaum will dagegen einen Teil der Europaparlamentarier per Zweitstimme direkt wählen lassen. CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble geht noch weiter: Er regt gleich die Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten an.

Der Vorschlag, der sonst nur von einigen Kleinparteien wie beispielsweise der Piratenpartei unterstützt wird, stößt bei Schäubles Parteikollegen auf Widerstand. "Das fände ich falsch", sagte der CDU-Europapolitiker Elmar Brok. Eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten käme einem Systemwechsel gleich. Sie wäre weder mit der bisherigen Rechtsgrundlage der EU noch mit dem künftigen Vertrag von Lissabon vereinbar.

Auch die grüne Spitzenkandidatin Rebecca Harms hält Schäubles Vorschlag für völlig irreal. Nationale Politiker sollten sich erstmal bemühen, europäischen Akteuren und europäischen Themen überhaupt ein wenig Raum auf der Bühne zu lassen, bevor sie mit solchen Ideen für Wirbel sorgten, sagte Harms.

Brok plädiert stattdessen dafür, die Fraktionen künftig Spitzenkandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten aufstellen zu lassen. Die Parlamentsmehrheit entschiede dann – ähnlich wie in allen nationalen Parlamenten – über das Amt des Regierungschefs der EU.

Doch auch ohne revolutionäre Neuerungen könnte die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten diesmal ziemlich spannend werden. Seit 2004 hat der christdemokratische Portugiese José Manuel Barroso den Posten inne. Seine Amtszeit endet im Herbst. Am Dienstag kündigte er seine erneute Kandidatur an. Doch seine Wiederwahl ist keineswegs sicher.

Zunächst muss Barroso von den Staats- und Regierungschefs einstimmig vorgeschlagen werden. Dies könnte schon auf dem EU-Gipfel in der kommenden Woche geschehen. Doch noch ist beispielsweise unklar, ob der französische Präsident Nicolas Sarkozy an seiner Zusage für Barroso festhalten kann, nachdem bei der Europawahl in Frankreich Grüne und Sozialisten deutlich stärker wurden als Sarkozys Regierungsbündnis. Auch einige kleinere EU-Staaten gelten als Wackelkandidaten.

Anschließend muss Barroso vom EU-Parlament bestätigt werden. Und auch dort hat er bisher keine Mehrheit. Zwar ist er erklärter Kandidat der dortigen konservativen Fraktion EVP-ED, allerdings verfügt die nur über 263 Stimmen. Für seine Wiederwahl braucht Barroso die absolute Mehrheit von 369 Stimmen.

Bei seiner ersten Wahl 2004 konnte sich Barroso auch auf die Stimmen der Sozialisten und der Liberalen verlassen. Diese Große Koalition hat im Europaparlament Tradition. Auch die meisten Gesetzentwürfe werden mit ihrer Mehrheit verabschiedet.

Bei der Wahl des Kommissionspräsidenten könnte es diesmal anders kommen. SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz, der Vorsitzender der sozialistischen Fraktion SPE ist, hat im Wahlkampf eifrig gegen Barroso Stimmung gemacht. Jetzt sagte er der Financial Times Deutschland:, es sei eine "Unverschämtheit", dass Barroso noch vor der Konstituierung des Parlaments seine Kandidatur anmelde. Er könne seiner Fraktion "deshalb derzeit nicht empfehlen, Herrn Barroso für eine zweite Amtszeit zu unterstützen." Allerdings ist unklar, ob Schulz die gesamte sozialistische Fraktion überzeugen kann. Wenigstens die portugisischen Abgeordneten sind eher für Barroso.

Um sicherzugehen, ist die EVP bei der Wiederwahl Barrosos deswegen auf die Liberalen sowie auf die aus der EVP ausgetretenen tschechischen und britischen Konservativen angewiesen. Aber auch die Liberalen geben sich vorerst zurückhaltend. Seine Partei müsse erst abwarten, was Barroso anbiete, sagt deren Fraktionschef Graham Watson.

Auch eine Jamaika-Koalition, die im Europaparlament tatsächlich eine stabile Mehrheit hätte, wird es nicht geben. Am lautstärksten trommelt nämlich derzeit der französische Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit für die Ablösung Barrosos. Eine Position, die die deutsche Spitzenkandidatin der Grünen, Rebecca Harms, 100prozentig teilt. Barroso habe zum Klimaschutz lange Zeit geradezu "getragen werden müssen", sagte sie. Auch in der Wirtschaftskrise habe er sich nicht bewährt. Cohn-Bendit warf Barroso Unzuverlässigkeit vor. Dieser sei ein "politisches Chamäleon" sagte er der französischen Zeitung Libération.

Selbst eine absolute Mehrheit aufstellen, können die Fraktionen links der EVP zwar nicht. Die Verhinderung der Wiederwahl des Amtsinhabers liegt dagegen durchaus im Bereich des Möglichen. Dass sich nun Cohn-Bendit dieser Sache annehmen will, sollte der EVP zu denken geben. Denn auch der sensationelle Erfolg, den der Grüne in Frankreich erzielte, beruhte im Wesentlichen darauf, dass Cohn-Bendit ungewöhnliche Bündnisse einging.

ZEIT ONLINE

Katharina Schuler

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false