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Heimatlos, hoffnungslos: Seit elf Jahren lebt der Somalier Abdulkadir Mohammed Ahmed auf Malta.

© Marion Schulz

Flüchtlinge auf Malta: „Wir kommen hier nie mehr weg“

Abdulkadir Mohammed Ahmed gehört zu tausenden Flüchtlingen, die auf Malta gestrandet sind. Viele leben seit Jahren auf der Insel – und fühlen sich von der Regierung und Europa im Stich gelassen. Der Frust ist so groß wie die Ratlosigkeit.

Als der Stuhl unter ihm zusammenbricht, schnappt sich Abdulkadir Mohammed Ahmed ihn an der Lehne, schleudert die Sitzgelegenheit auf den Asphalt und brüllt: "Dieser verdammte Stuhl ist wie dieses ganze verdammte Malta, total kaputt", schreit der Somalier, sodass seine Freunde die Köpfe schütteln. In Grüppchen stehen sie vor dem Open Center, einem Flüchtlingsheim für Männer im maltesischen Marsa, einer kleinen Hafenstadt, die sich nahtlos an die Hauptstadt Valletta anschließt.

Vor dem Heim der rostige Bug eines Schiffes, ein U-Boot, ein Öltank. Daneben ein Kanal, der nach Kloake stinkt und dessen Anblick die Männer zum Lachen bringt, wenn sie auf die Fische im trüben Wasser schauen. "Uns geht es wie diesen Fischen", sagt Abdulkadir Ahmed. "Wir überleben hier einfach nur." Wie er da so steht und mit den Kumpels plaudert, hört man, wie sie sich wundern, weil sich seit Kurzem jedermann für sie interessiert.

Seitdem in der vergangenen Woche 24 Opfer des Bootsunglücks auf Malta beigesetzt wurden, ist das Schicksal der auf der Insel gestrandeten Flüchtlinge ein großes Thema – in den Fernsehberichten internationaler Sender, in den Reden der Politiker. Am Donnerstag forderte Bundespräsident Joachim Gauck beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft in Marsa einen "solidarischen Umgang mit Menschenschicksalen". Und betonte: "Insgesamt können wir sicher in Europa mehr tun." Abdulkadir Ahmed winkt ab: "Es mussten erst 800 Menschen ersaufen, dass sich die Leute für uns Flüchtlinge interessieren. Dabei ist doch alles wie immer. Was denen passiert ist, hätte uns allen hier passieren können."

Richtung Deutschland

Abdulkadir Ahmed, der den bitteren Ausdruck im Gesicht nur dann verliert, wenn er von Fußball redet – "ich war verdammt gut, ich hätte Profi werden können" –, wollte nach Italien und dann weiter nach Deutschland, Schweden oder Norwegen. Hauptsache Richtung Europa, um sich dort fern vom Bürgerkrieg in Somalia einen Job zu suchen und als ältester Sohn seine Familie zu ernähren.

Als sein Boot in maltesischen Gewässern der Sprit ausging, strandete er auf Malta. Das war 2004. Nun hängt er wie Tausende andere auch seit elf Jahren auf dieser Insel. Nur 90 Kilometer von Sizilien und seinem Traum von einem geordneten Leben entfernt. Und er fühlt sich nicht mehr zugehörig, weder zum europäischen noch zum afrikanischen Kontinent. "Keiner von uns will hier hin, aber wenn man einmal da ist, kommt man hier nie wieder weg."

Malta ist kaum größer als Bremen. Kein anderes europäisches Land ist so dicht besiedelt, mit ihren Steinhäusern wirkt die Insel wie eine Festung. Wenn man sich mit Maltesern auf der Straße über Flüchtlinge unterhält, sagen sie immer wieder einen Satz: "Ich habe nichts gegen sie, aber ..." Da hört der Satz auf. Gelegentlich nehmen die USA Flüchtlinge aus Malta auf, ebenso Deutschland, Italien und andere EU-Länder. Die meisten aber bleiben auf der Insel, die maltesischen Behörden sind mit ihnen überfordert und überlassen sie in vielen Bereichen sich selbst. Wer aus einem der Heime raus will, braucht einen Job.

Die Behörden schweigen

Um einen Job zu bekommen, muss man Englisch sprechen, besser noch Maltesisch. Die Regierung bietet einen Basiskurs an, in dem Flüchtlinge und Asylsuchende Grundlagen lernen. Flüchtlinge und Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen berichten, er dauere 21 Tage. Das Ministry of Home Affairs, das für Flüchtlingsangelegenheiten zuständig ist, reagiert weder auf Interviewanfragen noch beantwortet es konkrete Fragen. Auch maltesische Journalisten haben Probleme, Informationen zu bekommen. Erst in der vergangenen Woche wurde das Ministerium wegen einer unbeantworteten Anfrage zu einer Geldstrafe verurteilt.

Zahlreiche Flüchtlinge berichten ebenfalls, sie werden von den Behörden hingehalten, abgewiesen oder an falsche Stellen geschickt. Egal, ob es die Männer aus Somalia, Eritrea und Äthiopien vor dem Open Center in Marsa sind oder andere, die man in den Wartezimmern der NGOs oder einfach nur an einer Bushaltestelle in Valletta trifft – sie beschweren sich, dass man sie nicht über ihre Rechte oder Möglichkeiten aufklärt. Sodass nur die ganz Beharrlichen ans Ziel kommen und der Rest auf der Strecke bleibt.

Jobs für 15 Euro am Tag

Die warten dann in den Heimen auf den Laster, der morgens kommt und Männer abholt, um sie zur Ernte auf die Felder oder in einen der Steinbrüche zu fahren und in die Hotels, um zu putzen. Manche bekommen dafür nicht mehr als 15 Euro am Tag. Nun war der Truck aber schon drei Tage nicht da, sagt Abdulkadir Ahmed. Und wenn er kommt, bedeutet es nicht, dass er es sein wird, der aufspringen darf. Wer arbeiten will, muss die anderen mit seinen Lohnforderungen unterbieten.

"Wenn ich daran denke, was ich alles auf mich genommen habe, um hierher zu kommen, wäre ich lieber in Somalia an Hunger gestorben", sagt er. Doch es war nicht nur Hunger, der ihn wegtrieb. Sein Bruder wurde vor seinen Augen erschossen, erzählt er und stampft mit einem Fuß auf den Boden, weil er sich nicht mehr erinnern will. Männer mit Maschinenpistolen hätten seine Mutter, den Bruder und ihn selbst aus dem Haus gezerrt. Sie stellten den Bruder in die Mitte und drückten ab. "Wie soll man sich da bitte fühlen?", fragt er und betont jedes einzelne Wort. Seine Augen füllen sich mit Tränen, und Abdulkadir Ahmed sagt für eine ganze Weile gar nichts mehr.

Dann kommt ein Freund vorbei, ein junger Somalier, der erst seit einem Jahr auf Malta ist, und legt los: Seine ganze Familie sei tot, seine Schwester, seine Mutter, die Brüder – niedergemetzelt. Er selbst habe mit 100 Leuten an Bord Libyen verlassen, davon sollen mehr als 40 die Reise nicht überlebt haben. Er schreit so laut, dass Abdulkadir Ahmed ihn bittet, er solle es gut sein lassen.

Geschichten wie diese sind in den Flüchtlingsheimen des Zwergenstaates in allen Zimmern zu hören. Einige können stimmen, müssen es aber nicht, andere müssen nicht stimmen, können es aber sehr wohl. Eines ist allerdings klar: Die Überlebenden sind auf sich allein gestellt. Die maltesischen Behörden vermitteln, anders als in manchen anderen EU-Staaten, keine Traumatherapien.

Einer, der Hoffnung gibt

Dass sich die Bedingungen für Flüchtlinge auf Malta zumindest ein wenig verbessert hat, schreibt Abdulkadir Ahmed nicht der Politik, sondern einem Mann zu, der sich für die Rechte derer einsetzt, die alle nur "Boat People" nennen: Bushra Fona ist 39 Jahre alt, Sudanese und genauso lang im Land wie Abdulkadir Ahmed. Als er die Gruppen vor dem Heim abschreitet, sein linkes Bein nachziehend von einem Schusswechsel in seiner Heimat, begrüßen sie ihn wie einen Anführer. Bushra Fona hat es eilig.

Wie jede Woche trifft er sich mit Mitarbeitern der Regierung, um mit ihnen über die Bedingungen für Flüchtlinge zu diskutieren. Für Neuankömmlinge ist es nicht mehr so schwierig, an eine Arbeitserlaubnis zu kommen, und in den Krankenhäusern werden Afrikaner nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahren, abgewiesen. Fona sagt: "Wir dürfen nicht aufgeben. Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren." Abdulkadir Ahmed, der die Hoffnung längst aufgegeben hat, vergisst das kurz. Er hebt seine Faust kämpferisch zum Gruß.

Marion Schulz

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