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Grün-rotes Doppel: Winfried Kretschmann (vorn) und Nils Schmid.

© Jörg Carstensen/dpa

Flüchtlinge: Die Grünen stehen zwischen Kreuzberg und der Realität

In der Asylpolitik ist Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg der Kanzlerin näher als seiner Parteichefin. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Werner van Bebber

Die Asylpolitik wird bei den Grünen neuerdings arbeitsteilig behandelt. Zuständig für die perfekte Moral ist Simone Peter, die Bundesvorsitzende. Für sie sind strenge Abschieberegelungen und verlängerte Listen mit sicheren Drittstaaten unerträglich – die Rückkehr zu einer „längst gescheiterten Abschottungspolitik“.

Grüne hingegen, die Politik nicht allein mit Worten machen, sondern mit Entscheidungen, reden seit Wochen dem Pragmatismus das Wort, und zwar auf allen politischen und moralischen Ebenen unterhalb der Peter’schen. Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, will möglichen Asylbewerbern vom Balkan deutlich machen, dass sie auf dem „Holzweg“ sind, wenn sie hoffen, dass sie per Asylrecht in Deutschland wirtschaftlicher Not entfliehen können.

Damit ist Kretschmann auch politisch nicht weit weg vom Nachbar-Regenten Horst Seehofer. Und Boris Palmer, der grüne Bürgermeister von Tübingen, hat – als Peter noch die reine Asyl-Lehre predigte – auf die „Belastungsgrenze“ hingewiesen, die es auch in der deutschen Gesellschaft gibt. An der Basis ist man halt gelegentlich etwas sensibler für die raue Wirklichkeit als im Polit-Raumschiff über Berlin-Mitte.

Offenbar hat auch die Kanzlerin des freundlichen Gesichts die Belastungsgrenze inzwischen wahrgenommen. Die Pläne für ein schärferes und engeres Asylrecht, die das Bundeskabinett beschlossen hat, zeigen dies deutlich. Sie zeigen in einigen Details aber auch, dass Merkel den Grünen ihre Positionen genauso streitig machen kann wie bei Bedarf ihrem Koalitionspartner.

Im Rest der Republik wachsen Skepsis und Sorgen

Kretschmann erklärt vor dem Landtag in Stuttgart, die Grünen hätten immerhin eine bessere Gesundheitsversorgung für Asylbewerber durchgesetzt. Tatsächlich hat Merkel schon Mitte September erkennen lassen, dass sie die Gesundheitskarte für Asylbewerber will. Kretschmann spricht vor seinem Landtag von legalen Arbeitsmöglichkeiten für Menschen vom westlichen Balkan, die die Grünen durchgesetzt hätten. Tatsächlich hat Arbeitsministerin Andrea Nahles dies schon Anfang September angekündigt – vorausgesetzt, Bewerber aus den Westbalkanstaaten können einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz in Deutschland vorweisen.

Was wird daraus? Bei den Grünen wissen sie es vermutlich nicht so genau. Die reine Lehre der Simone Peter mag sich bei Kreuzberger Hobby-Asylpolitikern höchsten Ansehens erfreuen – im Rest der Republik wachsen Skepsis und Sorgen. Realpolitiker wie Kretschmann und Palmer hingegen sehen einerseits, dass man mit der Union asylpolitisch leben kann – und andererseits, dass man in diesem Zusammenleben einen gewissen Identitätsverlust riskiert.

Aber das ist bloß eine Momentaufnahme. Wie nämlich das Wahlvolk über Variante drei des Merkel’schen Krisenmanagements nach der Finanz- und der Griechenland-Krise urteilen wird, steht dahin. Es wird vom Umgang der Bundesregierung mit „Belastungsgrenzen“ abhängen, von der Leistungsfähigkeit deutscher Behörden und – aber gewiss doch – von der Funktionsfähigkeit der staatlichen Ordnung. Flexibilität ist nicht alles.

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